Der übersehene Mann: Roman
immer wieder darüber nachdenken, was es mit der Narbe wohl auf sich hatte.
23
Sechsundachtzig durfte das große graue Steinhaus nur selten betreten. Er durfte dort weder essen noch schlafen, sondern wurde draußen gehalten wie die Tiere: Er sollte auf den Feldern arbeiten und in der Scheune schlafen.
Wie sich herausgestellt hatte, war Arnold Fairley ein brutaler, fetter Junge, nicht viel älter als er, aber viel größer und stärker. Anfangs hatte er gehofft, sie könnten vielleicht Freunde werden, aber ihm wurde nur allzu schnell deutlich, dass Freundschaft auf dem Hof der Fairleys so unerwünscht war wie ein Engel im Hades.
Morgens wurde Sechsundachtzig vom Krähen des Hahns geweckt. Er schlief in einem Bett, das tagsüber in eine Truhe verwandelt wurde und das hinter einem rostigen Zinkgitter in einer Ecke eines Schuppens stand, in dem Werkzeuge und Gerätschaften aufbewahrt wurden. Nachts gab es nur das Licht von Mond und Sternen. Vielleicht war das auch besser so. Denn er hätte es nicht ertragen, ihre gehässigen Gesichter zu sehen, wenn sie sich wieder und wieder über ihn hermachten.
Er schlug die Pferdedecke zur Seite. Alpträume umschwirrten ihn wie unheimliche schwarze Vögel, deren Flügelschlag alle Freude im Keim erstickte. Im Leben des Jungen gab es keine Freude. Die Jahre vergingen und dies war die schreckliche Wahrheit, so scharf und bitter wie die Gesichter der Fairleys, so hart und unabänderlich wie Feuerstein.
Anziehen musste er sich nicht, denn es war so kalt, dass er in seinen Kleidern geschlafen hatte.
Er kniete sich neben das Bett. Das Aufsagen seiner Morgengebete war Pflicht. Mrs Fairley hatte ein Herz-Jesu-Bild über sein Bett gehängt, von dem Christus flehentlich auf ihn herabblickte, den schlanken Finger auf das offene, blutrote Herz gelegt. Sechsundachtzig zog den blauen Rosenkranz aus Plastik hervor und ließ die Perlen durch seine vor Kälte steifen Finger laufen, dabei murmelte er die Vaterunser und Ave-Marias halblaut in die widerhallende Tiefe der Scheune.
Als er fertig war, nahm er seine Zinnschüssel und einen Löffel von einem Brett unter dem Bild und überquerte den in der Morgendämmerung daliegenden Hof. In der Nacht hatte es geregnet. Rinnsale rannen über den Hof und auf dem Laub zitterten feine Regentropfen. Er hasste den Regen, hasste den Gedanken daran, wie er die matschigen Knollen aus ihren nassen Gruben zerren musste, hasste den schmatzenden Schlamm und den glitschigen Korb, hasste den Regen, der ihm über den Hinterkopf in den Nacken lief. Wenn es regnete, wurde er nie trocken, alles verlangsamte sich und Farmer Fairley wurde wütend.
Er wartete auf den Steinstufen vor der Hintertür und spähte ab und zu durch das Fenster in das bernsteinfarbene Licht der Küche hinein. Drinnen saß die Familie vor einem Feuer beim Frühstück. Er sehnte sich danach hineinzugehen, seine Finger an den tanzenden Flammen zu wärmen und zuzusehen, wie der Dampf aus seinen feuchten Kleidern stieg. Doch auch dieser Wunsch blieb nur ein Traum – wie all das andere in seinem kurzen Leben, was ihm von heimtückischen Erwachsenen vorenthalten wurde, die zwischen ihm und dem Kind standen, das zu sein er verdiente.
Als Arnold Fairley ihn sah, streckte er ihm die Zunge heraus, dann machte er sich feixend über seinen riesigen Teller mit Speck und Eiern und Würstchen her. Sechsundachtzig stand und starrte. Sein Magen war hart vor Hunger, Hände und Füße waren blau vor Kälte.
Dann hörte er, wie der Riegel zurückgeschoben wurde. Constance Fairley stand in der Tür und streckte ungeduldig die Hand nach seiner Schüssel aus.
Er trug die Schüssel Porridge unter seiner Jacke vorm Regen geschützt zurück zum Schuppen, setzte sich auf die schmutzige Matratze und aßhastig, denn er wusste nicht, wann Farmer Fairley auftauchen und ihn aufs Feld abkommandieren würde. Oft hatte er nicht genug Zeit, um aufzuessen, und dann wurde er beschuldigt, »die guten Gaben des Herrn« zu verweigern. Am nächsten Morgen bestrafte ihn Mrs Fairley dann, indem er kein Frühstück bekam. Es war nutzlos, seine Unschuld zu beteuern, tat er es doch, wurde er für seine Unverfrorenheit geschlagen. Aber die Fairleys fanden sowieso immer einen Grund, ihn zu schlagen.
Wenn es auf dem Hof nichts zu tun gab oder Farmer Fairley in Geschäften unterwegs war, holte ihn die Herrin ins Haus. Das passierte nicht oft, aber der Junge genoss die warmen Zimmer und den Blick auf das Kaminfeuer, selbst wenn er sich nie
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