Der übersehene Mann: Roman
welchen er nehmen wollte. Alle drei sahen gut aus und kosteten in etwa dasselbe. Schließlich entschied Jamie sich nach eingehender Beratung durch Paddy und Mr Harvey (der nach Hause zu seinem Whiskey am Feuer und dem Spiel England gegen Pakis tan wollte) für den torfbraunen, den er aber zur Sicherheit noch einmal anprobierte.
Als er wieder herauskam, drückten die beiden ihre Zustimmung aus, doch Jamie runzelte die Brauen, schlug das Revers zurück und sah auf seinen Hosenstall herunter.
»Den hochzukriegen war ein richtiges Ding.«
»Ach wirklich«, antwortete Mr Harvey und widerstand dem ersten Impuls, laut herauszulachen. »Die Reißverschlüsse sind etwas spröde, wenn sie neu sind, aber Sie müssen sie mit einem kräftigen Ruck hochziehen, dann klappt das schon.«
Jamie nickte, dann durchlief er eine Abfolge gymnastischer Übungen, um zu testen, wie dehnbar der Anzug war und ob die Nähte unter den Achseln und im Schritt auch hielten.
»Gute Beinlänge, finde ich«, verkündete er.
Er ging in die Hocke und schoss wieder hoch. »Und ordentlich Platz hat er auch.«
Dann warf er die Hände in die Luft, ließ sie wieder baumeln und riss sie wieder hoch – wie ein Orang-Utan, der ein bizarres Paarungsritual vollführt.
»Wissen Sie«, sagte er zwischen seinen erhobenen Armen hindurch, »er zwickt mich ein bisschen unter den Achseln.«
Das hatte Mr Harvey erwartet. Jeder, aber auch wirklich jeder Bauer, dem er einen Anzug verkauft hatte, hatte dieses Affentheater aufgeführt,bevor er ihm das Geld auf den Tisch gelegt hatte. Deswegen hatte er schon eine markige Antwort parat.
»Ja, James, wenn Sie in diesem Anzug einen Diskus oder einen Speer werfen wollten, dann könnte ich Sie ja verstehen. Aber da Sie ihn nur zur Messe tragen wollen, bei deren Teilnahme die Neigung zu drastischen Sportarten nicht vorausgesetzt wird, wollen Sie ihn wahrscheinlich nicht für solche Zwecke nutzen, oder?«
Er lachte und klatschte in die Hände. Hoffentlich würde er jetzt das Geschäft abschließen.
»Ja, wahrscheinlich haben Sie recht«, räumte Jamie etwas zögerlich ein.
Eine Pause folgte, in der Jamie den Anzug auf- und zuknöpfte, wobei er unentschieden vor dem Spiegel vor- und zurückging.
»Ich finde, er sieht richtig gut aus, Jamie«, bemerkte Paddy von seinem Stuhl her. »Mit dem Anzug könntest du überall hingehen, in die Messe, zu einer Hochzeit und auch zu ’ner Beerdigung, Jamie.«
Mr Harvey sah zur Uhr. Der erste Durchgang des Kricketspiels rückte in gefährliche Nähe. Er ging zu einem Regal mit Hemdschachteln, zog eine hervor und nahm geübt den Deckel ab.
»Sonnengelb, James! Polyester und Baumwolle, faltenresistent, fünf Pfund, für Sie drei. Ein besseres kriegen Sie zu dem Preis nicht.«
Jamie untersuchte das Hemd. »Ist das nicht ein bisschen zu hell?«
»Unsinn! In Amerika tragen sie alle nur noch helle Farben. Braun und gelb passen so gut wie Brot und Butter, wie Salz und Pfeffer, wie meine bessere Hälfte und ich.« Er lachte und rieb sich die Hände. Er war ungeduldig, denn er merkte, dass er diesen Bauern noch einen Köder unter die Nase halten musste, um sie loszuwerden.
»Ich sag Ihnen was, James«, begann er und zog noch eine Schachtel aus einem Regal. »Ich gebe Ihnen diese topmodernen braunen Halbschuhe zum halben Preis dazu.«
Jamie erwog den Vorschlag. Die senfgelben Schuhe würde er jedenfalls nicht mehr anziehen, denn sie erregten zu viel Aufmerksamkeit. Es war ihm peinlich, dass er diese Schuhe getragen hatte, und das gabschließlich den Ausschlag, alles zu nehmen. Mr Harvey seufzte erleichtert, als der Kauf unter Dach und Fach war.
Jamie verließ Mr Harveys Laden äußerst zufrieden. Jetzt konnte kein Zweifel mehr bestehen, dass eine Miss Lydeea Devine einen Mr James Kevin Barry Michael McCloone treffen würde, der wie eine »Hoheit« aussah, so wie Rose es vorhergesagt hatte.
26
Wie die meisten Menschen hasste auch Lydia Krankenhäuser, hatte aber zu ihrem Glück noch nie in einem gelegen. Sie hatte auch nur selten Besuche in Krankenhäusern abstatten müssen. Und nun hatte sie den Eindruck, dass sie für dieses Glück zahlen musste, als handele es sich um eine Art wohlverdienter Strafe.
Ihr Vater war im Schlaf gestorben und sie hatte erst spät im Leben erfahren, was Trauer war, allerdings ohne das schreckliche Vorspiel miterleben zu müssen, das dem Tod alter Menschen oft vorausgeht.
In den vergangenen vier Tagen hatte ihre Welt aus den gebohnerten Fluren und
Weitere Kostenlose Bücher