Der übersehene Mann: Roman
Qualen nicht zu ertragen brauchte und nicht mehr an das grässliche »Verbrechen« denken musste, das er begangen und an die Strafe, die er dafür bekommen hatte.
Er erinnerte sich an die vergangenen Stunden wie an einen Flickenteppich entsetzlicher Ereignisse. Der Teller, der ihm auf den Küchenboden der Fairleys gefallen war, die Frau, die das Schüreisen aus dem Messing gestell holte – und wie er nach dem ersten Schlag mit nackten Füßen durch den spritzenden Matsch geflohen war. Er hatte noch immer ihr wahnsinniges Geschrei im Ohr, als er über die Felder gerannt war. Farmer Fairley war unterwegs, Arnold in der Schule. Nur er und die Frau, das Schreien und der größer werdende Abstand.
Als das Haus außer Sichtweite war, kletterte er in einen Graben neben einem Feld, in den er bis zu den Knien einsackte. Dort blieb er, in einem Land voll Wasser und hörte dem Streiten der windgepeitschten Bäume und Hecken zu, zitterte und weinte und betete, dass die Nacht nicht anbrechen würde, dass sie nicht kommen würden. Aber als die riesigegraue kalte Himmelskuppel schwarz geworden war, kamen sie doch, wie er es geahnt hatte, leuchteten ihm mit Taschenlampen ins Gesicht und zerrten ihn mit rohen Händen aus dem Graben heraus.
Er schloss die Augen und versuchte die Erinnerungen auszublenden, als der Pferdewagen durch die Dunkelheit ratterte und der Mond sich hinter Wolken versteckte.
Sie hatten ihn mit dem Gesicht nach unten auf den Hof geworfen. Vater, Mutter und Sohn wechselten sich mit der Bestrafung ab. Der Farmer benutzte den Gürtel, die Herrin das Schüreisen und Arnold einen Stock. Der Sohn hatte ihm den Fuß auf den Kopf gestellt, um seine Schreie zu ersticken. Er hatte sich an den Steinchen und dem Matsch verschluckt, die er immer noch in Nase und Mund spürte. An mehr konnte er sich nicht erinnern, und das war auch mehr als genug, jedenfalls bis er den brennenden Schmerz unter seinem rechten Auge spürte und mit der Hand die verkrustete klaffende Wunde auf seiner Wange ertastete.
Wieder sah er Arnold feixen. Denn als dessen Eltern gegangen waren, damit sich ihr Opfer die Wunden lecken konnte, hatte ihn der Sohn unter manischem Gelächter umgedreht und ihm mit einer Scherbe von dem zerbrochenen Teller eine tiefe Furche durchs Gesicht gezogen.
Plötzlich wurde das Pferd langsamer. Sechsundachtzig öffnete die Augen. Zu beiden Seiten zeichneten sich die Umrisse von Gebäuden scharf im Mondlicht ab. Er versuchte sich aufzusetzen, aber seine Verletzungen schmerzten so sehr, dass er sofort wieder zurücksank. Dann sah er die rostigen Tore und war erleichtert, wieder »zu Hause« zu sein. Das Pferd kam zum Stehen. Er schloss die Augen, als man ihn vom Karren trug und auf den Boden legte. Dort lag er mit klopfendem Herzen und pochenden Schmerzen, knirschte mit den Zähnen und tat, als schlafe er. Er war durch mit den schrecklichen Fairleys. Er war frei.
Aber dann wurde er hochgenommen und eine bekannte Stimme durchschnitt die Dunkelheit.
»Bringen Sie ihn in mein Zimmer.«
Und damit fielen seine Hoffnungen in sich zusammen und seine ganze dunkle Welt begann zu schwanken.
Die Stimme gehörte Direktor Keaney.
Schneeflocken stoben gegen das hohe Fenster der Waschküche und schmolzen sofort an den heißen Scheiben. Drinnen spritzte kochend heißes Wasser aus den Hähnen. In dem Wasserdampf konnten die rund dreißig Jungen nur ihre eigenen Arbeitskollegen sehen. Sechsundachtzig und vierundachtzig standen nebeneinander und klopften auf die verknäulten Laken und Kleiderstücke, die sie in der großen Wanne eingeweicht hatten. Ordenstrachten und Sutanen wirbelten ineinander verschlungen herum, in einer Intimität, die die Menschen, denen sie gehörten, stirnrunzelnd abgelehnt hätten – sich windendes Schwarz, schlangenartiges Grün, Goldtöne. Alle Flecken, aller Schmutz verschwand unter den heftig schrubbenden Händen der sündigen Waisenkinder.
Links neben der Wanne stand ein randvoller Korb mit dreckiger Leinenwäsche, rechts eine Lattenkiste für die saubere Wäsche. Die Jungen arbeiteten zu zweit. Sie waren so an die Aufgabe gewöhnt und hatten so viel Angst vor Schwester Marys Stockschlägen, dass sie sich nicht trauten, den Rhythmus zu unterbrechen, noch nicht einmal für eine Sekunde.
Die Nonne lief die Reihen auf und ab, den Rohrstock hinter dem Rücken. Wie ein schwarzes Phantom tauchte sie aus dem Dampf auf und verschwand wieder darin. Sie war eine schlanke Frau mit einem kantigen, grimmigen
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