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Der übersehene Mann: Roman

Der übersehene Mann: Roman

Titel: Der übersehene Mann: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christina McKenna
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Gesicht, die ihr Habit eng um sich geschlungen trug, das in der Mitte von der Kordel ihres Ordens gehalten wurde.
    Sie sprach selten; der Stock war ihre Stimme. Wenn sie etwas sah, was ihr nicht gefiel, deutete sie mit dem Stock darauf und die Jungen hatten zu erraten, was dort falsch war.
    Bittere Erfahrungen hatten sie gelehrt, die Geheimsprache des Stocks deuten zu lernen. Wenn sie auf die dreckige Wäsche im Korb zeigte, hieß es, dass sie nicht schnell genug arbeiteten. Zeigte sie auf die Wanne, hießes, dass sie nicht kräftig genug schrubbten. Ein lauter Schlag auf die saubere Wäsche in der Lattenkiste hieß, dass sie die Wäsche nicht genügend gespült hatten und sie gefälligst noch einmal spülen sollten.
    Sechsundachtzig konnte keine Schläge mehr riskieren. Er war seit drei Tagen wieder im Waisenhaus und seine Wunden begannen gerade zu heilen. Sich über die Waschwanne beugen zu müssen, war Strafe genug. Nachts im Bett lag er auf dem Bauch und weinte sich in den Schlaf, dann betete er darum, dass seine Mutter bald kam, um ihn zu retten. Er stellte sie sich in einem geblümten Kleid vor, wie sie mit langen, wehenden Haaren über eine Gänseblümchenwiese auf ihn zugelaufen kam.
    Je länger er auf sie wartete, desto mehr malte er sich die Einzel heiten des Bildes aus, den roten Mund, die gewölbten Brauen über ihren lächelnden blauen Augen. Er roch den frischen Seifenduft, als sie ihn in die Arme nahm, und hörte das Rascheln ihres Kleides. Er war noch nie von irgendwem umarmt worden, doch manchmal hatte er aus dem rattern den Bus heraus Frauen gesehen, die Kinder auf dem Arm trugen, und sehnsüchtig gedacht, wie gut sich das anfühlen musste: Hände, die einen streichelten und nicht bestraften.
    Sechsundachtzig und sein Kollege hievten eine schwere graue Decke aus der Wanne und ruckelten sie für den weit geöffneten Schlund der Mangel zurecht. Mit beiden Händen und all ihrer Kraft drehten sie an den sperrigen Rädern. Die Decke war schon zur Hälfte durch, da klopfte ihm jemand scharf auf die Schulter. Er drehte sich erschrocken um und fragte sich, was er falsch gemacht haben konnte.
    »Mutter Vincent erwartet dich in ihrem Zimmer. Jetzt.« Die Nonne fixierte ihn mit ihrem kalten Blick. »Na los, Sechsundachtzig.« Sie bedeutete einem anderen Jungen, die Arbeit an seiner Stelle fortzuführen.
    Sechsundachtzig klopfte an die Tür der ehrwürdigen Mutter und wartete mit der Kappe bereits in der Hand. Er fragte sich, warum er gerufen worden war, und betete darum, dass man ihn nicht zur Fairley-Farm zurückschicken wollte. Sollte es so sein, würde er sie weinend auf den Knien anflehen.
    Eine Novizin, die er noch nie gesehen hatte, führte ihn herein. Mutter Vincent stand am Fenster und ließ ihn wortlos wissen, dass er sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch setzen sollte. Das kam nur selten vor: in Gegenwart einer Nonne sitzen zu dürfen. Auch sie nahm ihren Platz ein.
    Das Zimmer war kalt und kahl. Ein Schreibtisch, zwei Stühle, ein grauer Aktenschrank und eine Garderobe. An der graubraunen Wand hinter der Nonne hing ein Porträt von Papst Pius XII. Zu ihrer Linken hatte sich außen auf dem Fensterbrett eine kleine Schneewehe angesammelt.
    »Gute Nachrichten für dich, Sechsundachtzig. Ich gebe dich zur Adoption frei.« Sie lächelte ihn an, auch das kam selten vor.
    »Kommt meine Mami, Schwester?« Er wünschte es sich so sehr.
    »Wo denkst du hin, natürlich nicht«, fuhr sie ihn an, und seine Hoffnung fiel so schnell in sich zusammen, wie sie aufgekeimt war. »Sie hat deine Schwester und dich hier in einer Einkaufstüte abgeladen, als ob ihr Müll gewesen wärt, erinnere dich doch daran. Wahrscheinlich ist sie jetzt auch tot – wie deine Schwester.« Auch das sagte sie ihm lächelnd ins Gesicht. Doch nicht mit dem gütigen Lächeln der Gipsjungfrau in der Kapelle, sondern mit einem in Stein gemeißelten, harten und gefährlichen. »Am besten, du vergisst sie einfach.«
    Der Junge weinte.
    »Damit hörst du auf der Stelle auf!« Sie schlug mit der Hand auf die Tischplatte und er hörte auf zu weinen.
    »Es handelt sich um Bauern. Ein gutes katholisches Ehepaar.« Sie blickte in einen Folianten auf dem Schreibtisch. »Sie wollen einen Jungen, der gut auf einer Farm mitarbeitet. Und du hast dich als gute und zuverlässige Arbeitskraft herausgestellt, Sechsundachtzig. »Sie sah hoch und fixierte ihn anklagend. »Das ist doch richtig, oder etwa nicht?«
    »Ja, Schwester.«
    »Deswegen hast du es

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