Der Umfang der Hoelle
zu vernehmen, der verriet, daß die beiden Semperburschen die Metalltüre gefunden hatten und sich gegen selbige warfen. Was sich aber nicht so anhörte, als handle es sich um eine von diesen Pforten, die nach kurzer Zeit wie Toastscheiben aus ihrer Verankerung sprangen.
»Mein Gott, natürlich!« entfuhr es Reisiger.
Wie hatte er darauf vergessen können? Und das, nachdem er so viele Jahre seines Lebens damit rechnete, daß eines Tages ein Schreibgerät ihn würde retten können. Noch dazu, wo er doch seit zwei Jahren das Nonplusultra aller Kugelschreiber in seiner Tasche trug. Nicht anders als einen Herzschrittmacher.
Freilich hatte Reisiger gemeint, daß es die »Schreibkraft« dieses Kugelschreibers wäre, die zu seiner Rettung führen würde. Doch was nützte eine solche »Schreibkraft« hier und jetzt, inmitten absoluter Schwärze und in Erwartung eines Feuers? Was nützte die an einer kleinen, rollenden Kugel abgleitende Schreibflüssigkeit? Letztendlich wäre es nicht einmal sinnvoll gewesen, die Schuld Siem Bobecks auf einem Zettel festzuhalten, einem Zettel, der ja dann doch verbrennen würde. Und auch sonst bot sich nichts an, was schreibend zu erreichen war. Und darum hatte Reisiger die ganze Zeit über nicht an seinen Kugelschreiber gedacht und auch völlig vergessen, daß dieses Schreibgerät neben einigen anderen Extras über eine in das Kopfstück eingebaute Taschenlampe verfügte. Eine Taschenlampe, deren Kleinheit zum Trotz ein beträchtlicher Lichtkegel entstehen konnte. Strahlkraft statt Schreibkraft , das mußte das Motto sein.
Schrecklich spät also zog Reisiger seinen famosen Kugelschreiber aus der Innentasche des Jacketts und setzte mit dem Druck seiner Fingerkuppe das lichtspendende Lämpchen in Betrieb. Der Schein spaltete das Dunkel in ein oben und unten.
Mag dramatisch klingen, aber für die Leute im Raum war’s wie die Geburt von Licht. Ein katholisches Licht gewissermaßen, welches man meinte nicht Reisiger, sondern Marzell verdanken zu müssen. Mit dem Licht allein war es freilich noch nicht getan.
Im Schein der Lampe wurde eine weitere Türe entdeckt, die sich jedoch als nicht minder verschlossen und hartnäckig erwies. Gut möglich, daß hier auch die Türen mit einem Traklzitat zu öffnen waren. Aber Trakl war nun mal nicht die Stärke der Anwesenden. Weshalb man versuchte, einige Gegenstände als Rammbock zu benutzen. Umsonst. Mehr als ein paar Beulen im Metall kamen nicht zustande. Auch drang nun Rauch durch all die Ritzen, die zuvor kein Fünkchen Licht freigegeben hatten. Es war ungerecht. Überhaupt erfaßte einen jeden ein Gefühl großer Ungerechtigkeit. Auch Pfarrer Marzell, der es als geradezu geschmacklos empfand, einen Feuertod sterben zu sollen. Als habe ihn das Urteil einer ungreifbaren Inquisition ereilt. Als werde der Richter gerichtet.
Endlich fiel Reisigers kugelschreiberbedingter Lichtkegel auf jenes in der Mitte aufragende Teleskop von der Gestalt einer futuristisch-eleganten Kanone. Das Rohr erinnerte an jene 0,7-m-Teleskope, wie man sie in den fünfziger Jahren im russischen Observatorium Pulkowo erbaut hatte. Damit im Einklang war auf dem weißen Körper der Außenverkleidung zu lesen: Eye of Leningrad .
»Was haben Sie vor?« fragte Claire Rubin. »Sich Ihren blöden Mond ansehen?«
»Genau das«, sagte Reisiger und öffnete – ohne Gewalt, ohne Trakl und ohne Mühe – einen in Nachbarschaft des Okulars angefügten, runden, ein wenig wie ein Ohr abstehenden Kasten. Darin befand sich eine Schalttafel, die über eine Menge von Armaturen sowie eine Zifferntastatur und ein strohhalmartig geknicktes Mikro verfügte.
Reisiger war überzeugt, das sich von diesem Kasten aus nicht nur das Teleskop steuern ließ, sondern auch das vertikal bewegliche Spaltsegment, das ja in dieser Kuppel stecken mußte wie ein einzelner herausnehmbarer Zahnersatz in einem ansonst natürlichen Gebiß. Freilich suggerierte das Mikro, daß selbst noch im Falle der Teleskop- und Kuppelbedienung eine sprachliche Komponente zum Tragen käme. Schon wieder Trakl?
Erschwerend kam hinzu, daß Reisiger nicht wirklich mit dem Betrieb solcher Anlagen vertraut war. Weshalb er einfach jeden Schalter umlegte. Aber es geschah nichts. Auch das Teleskop rührte sich nicht. Kein Lämpchen leuchtete. Kein Regler sprang an.
Reisiger hatte Tränen in den Augen, vom Rauch und von der Wut. Er hätte jetzt gerne über eine Dosis Regina verfügt, um der Wut auch die nötige Brutalität zu verleihen
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