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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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war ein humorloser Mensch, der scheinbar immer nur sprach, wenn er etwas wirklich Wesentliches zu sagen hatte. Sein Kopf schien allein aus gescheiten Büchern zu bestehen. Er zitierte mehr, als daß er eine Meinung besaß. Er argumentierte wie mit einem Hammer, der sich aus den Namen großer Denker und großer Querdenker zusammensetzte. Gerade die Sparsamkeit, mit der er diesen Hammer einsetzte, besaß eine zermürbende Wirkung.
    »Ein deprimierender Mensch«, meinte Reisiger, als er neben Babett im Bett lag.
    »Er sieht blendend aus«, entgegnete seine Frau, »er ist modern, dabei zuvorkommend und hat nur Augen für Susanna. Er sieht sie an, als wäre er bereit, für sie in die Schlacht zu ziehen. In jede Schlacht, ganz gleich wie sinnlos.«
    »Ist das denn Liebe, in sinnlose Schlachten ziehen?«
    »In Schlachten, die man nicht gewinnen kann. Ja, das ist Liebe.«
    »Wäre nichts für mich«, sagte Reisiger.
    »Ich weiß, mein Schatz.«
    Babett hatte begonnen, ihren Mann wieder mit »Schatz« anzusprechen, was ihm zunächst unangenehm gewesen war, als hätte sie ihn »Schweinchen« oder »mein kleines Stinktier« oder »Leo-Baby« gerufen, aber er gewöhnte sich daran, gewöhnte sich an die Nähe, die auch in dem einen oder anderen innigen Kuß bestand. Während dieser Küsse wähnte er sich als Beobachter, wie jemand, der im Park sitzt und den Tauben beim Picken zusieht. Intimer wurde man nicht. Nicht angesichts der Intimität, die darin bestand, daß Babett ihren Mann auf die Toilette begleitete und ihm half, sich nicht anzupinkeln. Die eigentliche Peinlichkeit aber bestand darin, immer und überall Toiletten finden zu müssen, auf die man ohne große Erklärungen gemeinsam gehen konnte. Und wo dann Babett mit jener krankenschwesternartigen Routine und Gelassenheit vorging, die Reisiger beschämte. Was ihm aber immer noch lieber war, als sich von männlichen Tischnachbarn, Mitreisenden oder Hotelangestellten helfen zu lassen. Wie hätte sich das angehört, den netten, kleinen, pensionierten Universitätsprofessor, den man gerade erst kennengelernt hatte und welcher so sehr für die deutsche Romantik schwärmte, zu fragen: »Könnten Sie mir rasch beim Scheißen helfen?«
    Dann schon lieber Babett, die Ehefrau, als Krankenschwester.
    Susanna blieb reserviert. Und zwar ganz anders als Robert, dessen gewisse Distanz zu seinen Eltern ja bloß der Distanz zu sämtlichen Menschen entsprach. Auch wäre Robert niemals beleidigend geworden. Sein heimlicher Vorwurf reduzierte sich quasi darauf, daß jemand kein Pferd war.
    Susanna aber beleidigte durchaus, nicht in einer direkten Weise, sondern mittels einer Art von Stöhnen und Augenverdrehen und indem sie erbarmungslos ein Gesprächsthema wechselte. Leo und Babett fühlten sich in ihrer Gegenwart immer ein wenig dumm, erst recht in Gegenwart dieses famosen Verlobten. Die Angst der Eltern, dumm zu sein, entbehrte natürlich jeglicher Grundlage. Wenn man etwa über Filme sprach – und der Verlobte hielt sich darin für einen Experten –, wäre es für Babett ein leichtes gewesen, sich zu behaupten. Aber sie tat es nicht. Ja, der Verlobte erfuhr nicht einmal, daß es sich bei seiner zukünftigen Schwiegermutter um eine zumindest in Europa anerkannte Kritikerin handelte. Hätte er es gewußt, er hätte achtgegeben, mit dem, was er sagte. Aber er wußte es eben nicht, und Susanna hätte auch nie davon gesprochen. Sie tat so, als seien ihre Eltern eben nur Eltern, oder besser gesagt Kinder, kleine, einfältige Kinder, die sich hoffentlich bald wieder in ihr Kinderzimmer verziehen würden.
    Taten sie dann auch. Leo und Babett gaben ihrer Tochter den Segen, verließen die Stadt und fuhren mit einem gemieteten Wagen, den Babett mit einer Sorgsamkeit steuerte, als mähe sie einen Rasen, hinüber nach Dollarton, wo sie nach dem Strand suchten, auf dem Malcolm Lowrys Squatterhütte gestanden hatte, oder vielleicht noch immer stand.
    Die kleine Biographie, die Reisiger wie einen in Formalin eingelegten Embryo bei sich trug, blieb diesbezüglich vage, sprach von der Zerstörung des Piers im Frühjahr 1956 (als Lowry bereits zum endgültigen Sterben nach England zurückgekehrt war), nicht aber, was mit dem Häuschen geschehen war. Reisiger befragte Passanten, überzeugt, daß zumindest eine Art von Gedenkstein oder ein nach Lowry benanntes Archiv existieren müßte. Tat es vielleicht ja auch. Aber die Leute schüttelten den Kopf, der Name war ihnen fremd. Einige kannten immerhin die

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