Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
gewesen wäre, die Gabel zu nehmen. Wer wollte schon ein Kunstwerk verspeisen?
    Folgerichtig schob Reisiger den Teller ein wenig von sich, rauchte seine Zigarette zu Ende und winkte sodann den Kellner zu sich, um nach dem Koch zu verlangen.
    »Ist etwas nicht in Ordnung?«
    »Alles wunderbar, großartige Spaghetti.«
    »Sie haben doch noch gar nicht probiert.«
    »Ich sagte großartig. Und ich sagte, daß ich gerne den Koch sprechen möchte. Wenn das bitte möglich wäre. Ich habe schließlich nicht vor, ihn umzubringen. Oder was denken Sie?«
    »Ich werde den Koch holen«, sagte der Kellner, der ja eventuell damit rechnen mußte, daß dieser Rollstuhlfahrer sich als Gesellschafter von Barbara’s Island erwies. Oder etwas Schlimmeres.
    Der Mann, der dann erschien, war eine Enttäuschung. Ein verschüchterter Mensch mit weißer Haube, Mexikaner wohl, der zuerst Reisiger, dann die unberührte Portion Spaghetti betrachtete und erklärte: »Alles frisch zubereitet, Señor. Unsere Spaghetti sind berühmt. Kapitän Chips sagt …«
    »Das glaube ich gern. Aber darum geht es auch gar nicht. Sie sind doch sicher nicht der einzige Koch hier, der Spaghetti zubereitet.«
    »Was meinen Sie?«
    »Wie viele Leute arbeiten in der Küche?«
    »Sind Sie von der Polizei, Señor?«
    »Ja, ich bin von der Polizei«, sagte Reisiger ohne jede Scheu.
    »Sieben Leute«, erklärte der Koch.
    »Gut, ich gebe Ihnen jetzt eine Beschreibung. Und Sie sagen mir, ob Sie diesen Mann kennen.«
    Nachdem Reisiger ein Bild von Siem Bobeck entworfen hatte, das jetzt wie eins dieser zittrigen Hologramme im Raum stand, gewissermaßen über den erkaltenden Nudeln schwebte, erklärte der Koch, daß die Beschreibung nicht wirklich auf jemanden zutreffe, den er kenne, am ehesten aber auf Dr. Jakobsen. 
    »Was für ein Doktor?«
    »Unser Arzt.«
    »Nein, nein, ich suche jemanden, der in der Küche arbeitet.«
    »Dr. Jakobsen war früher in der Küche. Er hat uns allen beigebracht, wirklich gute Spaghetti zu machen. Ein großartiger Mann. Großartig als Koch und großartig als Arzt. Ein Genie und ein Heiliger.«
    »Ist ja schon gut«, wehrte Reisiger ab. »Was ich mich frage, wie kann jemand hier in der Küche anfangen und dann zum Arzt aufsteigen?«
    »Leiter der medizinischen Abteilung«, präzisierte der Koch, blieb jedoch eine Antwort schuldig. Betonte statt dessen das Faktum, daß erst unter Jakobsen die Klinik ihren guten Ruf gewonnen habe. So wie zuvor die Küche. Manche Leute, so der Koch, besäßen nun mal die Kraft und den Geist, die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen. Gleich einer marianischen Infektion. War man hingegen in der Zeit vor Jakobsen in die Behandlungsstation getreten, hatte man meinen müssen – trotz aller Modernität der Einrichtung –, in den Hobbyraum von Medizinstudenten gelangt zu sein.
    »Er ist also Ihr Heiliger hier, dieser Jakobsen?« zeigte sich Reisiger unerfreut ob solcher Glorifizierungen.
    »Er leistet wunderbare Arbeit«, erklärte der Mann mit der Haube bestimmt und nahm eine gerade, feindliche Haltung ein.
    »Danke«, sagte Reisiger und schob die Nudeln näher an den Koch.
    »Was? Sie möchten nicht einmal probieren? Ich habe extra für Sie gekocht, Señor … weil wir doch erst in einer Stunde aufsperren.«
    »Ich wollte die Nudeln nur einmal gesehen haben«, erklärte Reisiger, wobei er sich natürlich der Frechheit bewußt war, die er diesem Mann zumutete.
    Der Koch nahm den Teller, den er kurz hilflos betrachtete und irgendeine Klage in seiner Muttersprache anstimmte. Eine Klage, die die Macht einer Polizei betraf, die vor keiner Schamlosigkeit zurückschrecke. Dann drehte er sich um und ging fort, nicht ohne Würde, wie jemand, der eine verschmähte Juwelenkrone zurück zum Tresor trägt.
    Reisiger rief den Kellner und bat um die Rechnung.
    Dieser erklärte, es gebe nichts zu bezahlen. Konsumationen würden grundsätzlich auf Kosten des Hauses gehen. Beziehungsweise der Gesellschaft. Gleichgültig, ob es sich bei den Gästen um Angestellte oder Besucher handle. Jetzt abgesehen davon, daß er beim besten Willen nicht sagen könne, was angesichts einer nicht einmal angerührten Portion Spaghetti und somit einer grundlosen Beleidigung der Küche in Rechnung gestellt werden müßte.
    »Irgendeine Strafe wird mich schon noch ereilen«, sagte Reisiger, als wäre er jemand, der mit zwei gesunden Beinen im Leben stand und es sich leisten konnte, ein Bedürfnis nach Komplikationen zu entwickeln.
    Der Kellner

Weitere Kostenlose Bücher