Der Umfang der Hoelle
alten Schnüffler, aus den Augen gelassen zu haben.
»Was ist mit der Polizei?« fragte der Arzt den Kapitän, sah dabei aber zu Reisiger und schenkte ihm einen von diesen Blicken, mit denen man auf Röntgenbildern unerfreuliche Flecken feststellt.
»Man wollte uns ein paar Beamte herüberschicken«, sagte Chips, »von Saint John’s aus. Aber der Hubschrauber ist gar nicht erst gestartet. Wir bekommen einen ziemlichen Orkan serviert.«
»Oha!« meinte Reisiger.
»Absolut nichts, Herr Reisiger«, versicherte Chips, »wovor Sie sich fürchten müßten. Barbara’s Island ! Den Namen können Sie wörtlich nehmen: eine Insel. Eine Insel kippt nicht.«
»Ja, Lichfield hat mir das erklärt. Das einzige, was uns hier umbringen könnte, ist ein Eisberg, der die Sturheit von ein paar tausend Plastikenten besitzt.«
»Was für Plastikenten?«
»Vergessen Sie’s.«
»Wie Sie wollen«, sagte Chips, der Reisiger lieber heute als morgen losgeworden wäre. Er befürchtete, daß dieser Querschnittsgelähmte – im Geiste Lichfields wie in einem geborgten Anzug stehend – weitere Unruhe schaffen würde. Aber da war nichts zu machen. Der Sturm, der aufzog, war wohl kein Monster, aber ein unfreundliches Wesen, dem jeder ausweichen würde, der keine Insel war. Und Polizisten waren nun mal keine Insel.
Chips kündigte an, für Reisiger eine Kabine herrichten zu lassen. Selbstverständlich solle ihm jeglicher Service zuteil werden. Von der Vielfalt hiesiger Eßkultur habe er sich ja bereits überzeugen können. Allerdings müsse darauf bestanden werden – schon angesichts dieses Unglücks, auf welches kein zweites folgen dürfe –, daß Reisiger sich weiterhin ausschließlich in Begleitung jenes ausgewählten Mitarbeiters durch die Anlage bewege.
»Ich übernehme das«, sagte Jakobsen.
»Wie meinen Sie das, Doktor?« fragte Chips.
»Ich kümmere mich um unseren Herrn Reisiger. Ich glaube, das ist besser so. Er benötigt möglicherweise medizinische Betreuung. Wir könnten ihm hier auf der Station ein Zimmer geben. Nichts gegen den Burschen, den Sie draußen stehen haben. Aber mein Personal ist diesem Fall wohl geeigneter.«
»Ich bin gesund«, wehrte sich Reisiger.
»Ich meine nicht, daß Sie krank sind«, erklärte Jakobsen. »Ich meine, daß Sie als unser Gast optimale Sicherheit verdienen. Und eine solche ist im Bereich der Medizin viel eher gewährleistet als im Bereich der Unterkünfte. Es wäre mir auch eine Freude, Sie persönlich zu unterhalten. Solche Stürme machen mürbe, ein gutes Gespräch ist dann kein Fehler.«
»Dafür haben Sie Zeit? Für gute Gespräche?«
»Ich komme nicht um vor Arbeit«, erklärte Jakobsen. »Die Bewohner dieser Insel sind ausgesprochen robuste, vorsichtige Leute, die Hygiene vernünftig, die Sicherheitsmaßnahmen optimal.«
»Ach was!« sagte Reisiger und blickte auf den nackten toten Lichfield.
»Tja«, meinte Jakobsen, »manche Leute müßte man an die Leine nehmen. Aber eine Legende – und eine Legende war Mr. Lichfield ja nun wirklich –, eine Legende an der Leine, das ist schwer vorzustellen.«
»Sie müssen es ja wissen.«
»Sie überschätzen mich, Herr Reisiger.«
»Wohl kaum.«
Chips unterbrach dieses Geplänkel, dessen Sinn ihm verborgen blieb, und meinte, daß wenn Dr. Jakobsen sich bereit erkläre, Herrn Reisiger zu sich zu nehmen, dies fraglos die beste Lösung wäre. Nirgends sei Reisiger so gut aufgehoben. Allerdings müsse er, Chips, weiterhin darauf bestehen, daß einer seiner Männer in Reisigers Nähe bleibe.
Jakobsen stülpte seine Lippen blütenartig hervor und sagte: »Darauf können wir, denke ich, verzichten.«
»Das finde ich gar nicht«, wehrte sich Reisiger und meinte plötzlich: »Ich bestehe auf diesen Begleiter.«
»Bei allem Respekt«, erklärte Chips im Ton der Ungeduld und der Verärgerung, »ich habe jetzt zu tun. Auch auf einer Insel muß ein solches Wetter vorbereitet sein.«
Er gab seinen beiden Mitarbeitern ein Zeichen, und zu dritt verließ man den Raum. Der Mann, der draußen vor der Türe wartete, ging mit ihnen. Offensichtlich hatte es sich Chips anders überlegt oder einfach die Nase voll. Jedenfalls schien er es Jakobsen zuzutrauen, mit diesem verrückten Lichfield-Freund selbst fertig zu werden.
Jakobsen wandte sich an seine zwei Assistentinnen und wies sie an, den Toten hinüber in die »Kühltruhe« zu schaffen. Die beiden Frauen zogen eine Kunststoffhülle über den Leichnam, deren Öffnung sie wie ein sehr
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