Der Umfang der Hoelle
das werden Sie nicht wollen, aber um ihr ein wenig von dieser Verbissenheit zu nehmen.«
Reisiger konnte sich nur wundern. Was verlangte Bobeck von ihm? Mehr Heiterkeit? Spaß am Rollstuhlleben? Dennoch ließ er sein Glas mit jenem Bobecks kollidieren, nahm einen großen Schluck, dann einen zweiten kleineren, der wie ein Echo war, und fragte: »Wundert es Sie gar nicht, daß ich hier bin?«
»Ich gehe davon aus, daß Pfarrer Marzell Ihnen meine Grüße und meine Entschuldigung übermittelt hat.«
»Ja, hat er. Aber er konnte mir ja keineswegs sagen, wo genau Sie sind. Bloß, daß Sie auf dem Saturn hocken und Spaghetti kochen. Das kann man wohl kaum als präzise Auskunft bezeichnen.«
»Natürlich nicht. Aber schließlich hatte ich auch nicht vor, eine Verhaftung zu riskieren. Denn eins war mir klar, daß Marzell mich verraten würde. Nicht aus Rache. Rache ist ihm zu wenig erhaben. Sondern aus Ruhmsucht. Es wäre ihm eine Freude gewesen, solcherart nochmals in die Presse zu geraten.«
»Ich dachte, Sie mögen ihn.«
»Ein wunderbarer Mann, keine Frage. Aber wie gesagt, es widerstrebt mir, in die Fänge meiner Jäger zu geraten. Jeder dahergelaufene kleine Kriminalist ist vom Ehrgeiz beseelt, mir seine Handschellen anzulegen.«
»Warum dann überhaupt ein Hinweis?«
»Um Sie, Reisiger, zu locken. Ich gestehe, ein sentimentaler Akt. Wie man eben Freunde dazu verführen möchte, einen zu besuchen. Auch wenn man in der Einöde lebt.«
»Ist das Ihr Ernst? Sie wollten mich locken?«
»Nicht auf direkte Weise. Nein, ich habe Ihnen die Lockung wie einen von diesen kleinen intelligenten Schrittmachern ins Herz gepflanzt. Man merkt einen solchen Fremdkörper ja gar nicht. Aber er wirkt. Obgleich ich natürlich alles andere als sicher sein konnte, daß Sie mich auch finden würden.«
»Ich habe nicht nach Ihnen gesucht.«
»Woher wollen Sie das wissen?«
»Na, hören Sie«, empörte sich Reisiger. Allerdings spürte er eine feine Schwäche in seiner Erregung, gleich dem ersten Zeichen einer Verkühlung. Er trank sein Glas leer und stellte es wieder zwischen den Beinen ab. Er trank jetzt ein wenig schneller als üblich. Nein, sehr viel schneller. Mußte wohl das Wetter sein. Der Sturm trieb die Dämmerung vor sich her. Das Wasser war wie eine Unzahl sich epileptisch überschlagender Berge. Regen schlug gegen das Fenster, bloßer Regen, der aber wie Hagel klang. Oder als würde es Steine oder Ratten regnen.
Bobeck drehte das Deckenlicht aus und knipste eine Schreibtischlampe an, welche ein grünliches Licht über die Gegenstände warf und alles sehr viel gepflegter erscheinen ließ.
»Faktum ist«, sagte Bobeck, »daß Sie hier sitzen, mir gegenüber, und daß wir uns ja nicht in irgendeiner Untergrundbahn über den Weg gelaufen sind. Sich auf einer solcher Bohrinsel wiederzubegegnen, kann man wohl kaum einen Zufall nennen.«
»Davon habe ich auch nicht gesprochen«, erwidert Reisiger. »Ich wollte nur, daß Sie sich nicht einbilden, ich sei ein dreiviertel Jahr um die Erde gereist, bloß um Ihrem blödsinnigen Hinweis zu folgen.«
»Davon habe wiederum ich nicht gesprochen. Sondern von einem eingepflanzten Herzschrittmacher, der Sie ungeachtet Ihres Widerwillens angetrieben hat, alles und jeden auf seinen Saturn- und Spaghettigehalt zu überprüfen. Nichts leitet uns so sehr wie ein Rätsel. Daß Sie allerdings tatsächlich auf Barbara’s Island landen würden, hielt ich natürlich für unwahrscheinlich. Unwahrscheinlich wie das Entstehen eines freundlichen, kleinen Planeten mit einer präbiotischen Suppe, in der sich dann gewitzte Makromoleküle bilden. Unser eigenes Vorhandensein beweist, wie sehr gerade das Allerunwahrscheinlichste an die Oberfläche drängt, auf die Bühne des Lebens, ins Licht. Wir vergessen das immer wieder, daß wir permanent vom Unwahrscheinlichen umgeben sind, weil unsere ganze Existenz, die normalste noch, einem an den Haaren herbeigezogenen Gedankenexperiment gleicht, für das einzig und allein spricht, daß bei aller extremen Haarzieherei die Gesetze der Physik erhalten bleiben.«
»Also gut, vielleicht stimmt es. Vielleicht habe ich nach Ihnen gesucht. Jetzt muß ich mich nur noch nach dem Sinn fragen.«
»Neugierde«, erklärte Bobeck. »Alles ist Neugierde. Unsere Trägheit spiegelt bloß die Erschöpfung wieder, die aus dieser Neugierde resultiert.«
»Erschöpft bin ich durchaus«, sagte Reisiger, der jetzt dauernd nach draußen sah, in eine stark bewegte Dunkelheit.
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