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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Engel. Reisigers Rolle hingegen blieb unklar, obgleich er es ja gewesen war, der hier mit dem »Retten« begonnen hatte. Aber sein von vielen Zeugen beschriebener Mut, seine unglaublich provokanten Äußerungen, der Wahnwitz, mit dem er ein Messer aus der Hand geschlagen und sich einem anderen Messer ausgeliefert hatte, seine beobachtete Fröhlichkeit währenddessen, das alles führte bei aller Bewunderung auch zu einem großen Unbehagen. Vor allem führte es zu der Vermutung, daß Leo Reisiger wenigstens im Moment der Geschehnisse nicht bei Verstand gewesen war, daß wahrscheinlich der Anblick der beiden bedrohten Frauen, die Zerrissenheit zwischen seiner Angst und der Verpflichtung zur Zivilcourage (der gesetzlichen Verpflichtung, wie man nicht vergessen sollte) zu einem hohen Maß an Verwirrung geführt hatte. Einer Verwirrung, die dann auch die Verwirrung der Hooligans nach sich gezogen hatte.
    So spät das Erscheinen der Polizei erfolgte, so gering war das Aufheben, welches sie angesichts der Umstände machte. Die Beamten zeigten sich informiert, daß heißt, daß sie sich nicht etwa auf den unschuldigen Reisiger stürzten, vielmehr nahmen sie, ohne grob zu werden oder grob werden zu müssen, die vier überlebenden Hooligans fest und sicherten den Tatort. Und zwar nicht anders, als wollte man eine archäologische Stätte vor ungewollter Beschädigung schützen. Man war freundlich gegen die jetzt zahlreichen Neugierigen, nicht minder freundlich, wenngleich unverbindlich gegen die rasch eingetroffenen Medienleute und verhielt sich im übrigen so, wie man das an einem solchen Ort erwarten durfte. Es schien, als bestünde in dieser Stadt selbst noch die Polizei aus lauter Aristokraten, aus Menschen, die diese bestimmte Körperhaltung einnehmen, als würden sie sich noch am tiefsten Grund auf einer Aussichtswarte wähnen und Ausschau halten. Und auch gar nichts dabei finden, sich über das Objekt ihrer Ausschau im unklaren zu sein.
    Die beiden Frauen und Reisiger waren unverzüglich in ein Krankenhaus gefahren worden, das schloßartig auf einem hohen Hügel thronte und von dem man einen gesundheitsfördernden Blick auf den See und die entfernten Berge sowie die schneckenförmig gegen das Ufer gebaute Stadt besaß. Durch die hohen Fenster fiel das Licht wie in zugeschnittenen Platten und bildete gleichmäßige Muster. Alles hier wirkte sehr geordnet, zweihundertjährig erprobt. Keine der katholischen Schwestern lächelte. Sie sahen alle aus, als dienten sie in einem Lazarett des ersten Weltkrieges. Es handelte sich nicht um Bestien, natürlich nicht, aber sie hatten etwas an sich, was die Patienten dazu brachte, sich mit dummen Fragen und maßlosen Forderungen zurückzuhalten. Auf diese Weise herrschte große Ruhe, und jedermann war mit sich selbst und dem weiten, blauen, hellen Himmel beschäftigt, der hier überall gegenwärtig war. Im Grunde war es ein Ort, um zu sterben.
    Nun, Reisiger starb nicht. Ein Arzt untersuchte die Schnittwunde ohne merkbares Interesse, murmelte ein paar Begriffe, als erstelle er einen Einkaufszettel, und überließ sodann zwei Schwestern das Feld, die mit harten Gesichtern, aber geschickten Händen Reisiger mehrere Injektionen verabreichten, die Wunde vernähten und ihm einen Verband anlegten, der so stabil und weiß und enganliegend war, daß es Reisiger vorkam, man habe ihm eine Prothese eingefügt. Erstaunlicherweise war dieses Gefühl ein angenehmes. Wie Schuhe, die passen.
    Alsbald erschien Reisigers Geschäftspartner und verlangte die Verlegung des Patienten in ein Einzelzimmer. Die angesprochene Krankenschwester sah stumm durch ihn hindurch. Ohnehin winkte Reisiger ab. Er wollte liegenbleiben, wo er lag. Er wollte schlafen. Das tat er dann auch. Einen Tag und eine Nacht. Er war jetzt gewissermaßen im Urlaub.
    Nur einmal wurde sein Schlaf unterbrochen. Zum Essen, das man idealerweise mit der Befragung durch zwei Kriminalbeamte kombinierte. Während Reisiger ein durchaus üppiges Mahl zu sich nahm, ohne behaupten zu können, daß der rote, marmeladige Streifen in der braunen Sauce wirklich nötig gewesen wäre, beschrieb er den Beamten in präziser Reihenfolge das Geschehen. Natürlich sprach er weder von seinem verbrannten Lottoschein noch von seinem Bedürfnis nach Strafe. Er erklärte bloß, sich verpflichtet gefühlt zu haben einzugreifen.
    »Es wird behauptet«, meinte einer der Polizisten, »Sie hätten die Rowdys provoziert.«
    »Ich habe mich bemüht, nicht unbedingt

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