Der Umfang der Hoelle
ängstlich aufzutreten.«
»Es war von … von Augen die Rede.«
»Das ist nicht meine Idee gewesen, sondern die von dem Kerl, der jetzt tot ist. Eine Kontroverse über den Unterschied zwischen dem Japanischen und dem Europäischen. Ein Scheingefecht, um das eigentliche Gefecht vorzubereiten. Ich wollte dem Burschen ein wenig Kopfweh bereiten.«
»Das scheint Ihnen gelungen zu sein«, sagte der Polizist.
Dann ließ man Reisiger in Ruhe. Man vergaß nicht, daß er ein Opfer in dieser Geschichte war, so ungewöhnlich er sich auch benommen haben mochte. Und so sehr sein Verhalten höchstwahrscheinlich den tödlichen Ausgang provoziert hatte. Vor allem vergaß die Polizei nicht – so vornehm war man hier –, daß sie selbst die eigentliche Schuld trug, indem sie viel zu spät erschienen war. Reisiger hatte an ihrer Stelle agiert: laienhaft, kurios, konfliktträchtig, aber gehandelt.
Vier
Am Morgen danach wurde Reisiger entlassen. Ein Kriminalbeamter – noch eleganter und höflicher als die zwei vom Vortag – empfing ihn und geleitete ihn zu der Schar von Reportern, die bukettartig vor dem Krankenhaus versammelt waren. Der Fall hatte einige Aufmerksamkeit erregt, immerhin handelte es sich bei jener Anorakträgerin, die in der vollkommensten Weise zugestochen hatte, um eine ehemalige, nicht ganz unberühmte Schlagersängerin, die am Höhepunkt ihrer Karriere irgendeinen wirklich reichen Menschen geheiratet hatte und seither Bücher schrieb, die alle auf einer norwegischen Insel spielten. Daß sie einen Mann erstochen hatte, anständigerweise gar nicht anders hatte handeln können, wurde ihr auf eine mal verschämte, mal unverblümte Weise hoch angerechnet.
Allerdings stellte sich heraus, daß der Tote – der so wenig wie die anderen etwas mit »Honved« am Hut hatte, da mußte sich Reisiger verhört haben –, daß dieser Tote also mit dem wirklich reichen Gatten der Frau verwandt war. Die Presse witterte irgendeine Ungeheuerlichkeit, tappte aber vollständig im dunkeln. Umso mehr erhoffte man sich von Reisiger eine Antwort auf so manche Frage. Antworten, die er freilich nicht geben konnte. Der Name der Sängerin war ihm nur vage vertraut, und deren vielbeachtete Hochzeit definierte er als ein »Ereignis außerhalb meines Horizonts«.
Reisiger mußte den Reportern als elitär erscheinen, allein, wie er sprach, allein, daß er vorgab, noch nie von einem Chanson mit dem Titel Ein Herz aus Schnee gehört zu haben, einem Lied, das die Sängerin für eine kleine Ewigkeit dem Bewußtsein der Menschen erhalten würde. Fraglos präsentierte sich Reisiger als ein freundlicher Ignorant, als ein im Grunde scheuer Mensch, der nicht aus Überzeugung, sondern aus einer Gewissensnot heraus so ungemein forsch aufgetreten war. Der in seiner Verzweiflung quasi explodiert war, um schlußendlich doch recht kümmerlich zu versagen. Hätten die Presseleute freilich geahnt, daß sie dem Gewinner jener unberührten, wenn nicht sogar verschmähten Lottomillionen gegenüberstanden, ihre Mutmaßungen wären ins geradezu Literarisch-Metaphysische hochkatapultiert. So aber qualifizierten sie Reisiger als wenig ergiebig: keine Quelle, kein Star, kein Engel. Und doch ein bißchen Held des Tages.
Am selben Nachmittag noch traf Reisiger seinen Geschäftspartner, einen Kenner des asiatischen Marktes, vor allem des chinesischen, der in Shanghai, diesem Ort, der sich immer mehr zu einer Art Lego-Stadt entwickelte, eine PR-Agentur betrieb. Auch in China wuchsen Leute heran, die sich einbildeten, ein übernatürlich feines Gehör zu besitzen, und denen es als Zumutung erschien, ihr Gehör an mediokre Unterhaltungselektronik zu verschwenden. In China bildete sich eine neue Schicht audiophiler Snobs, die bereit war, die Schönheit eines zwei Finger dicken, rubinroten Plattentellers über jede andere Schönheit zu stellen.
Reisigers Geschäftspartner zeigte sich untröstlich ob des Vorfalls, empfand es als unglaubliche Schlamperei, daß Hooligans bis ins Stadtzentrum hatten vorstoßen können, ein Stadtzentrum, welches statistisch gesehen zu den friedlichsten Orten in diesem Land zählte. Von der Welt ganz zu schweigen, in der friedliche Plätze so gut wie immer mit menschenleeren einhergingen.
»Alles nicht so schlimm«, sagte Reisiger, machte ein Angebot, unterschrieb einen Vertrag, trank ein Glas Wein, ließ sich zum Flughafen bringen und flog heim. Manche Geschäfte wickelte er in einer Weise ab, als ginge es um drei Säcke Vogelfutter. Das
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