Der Umfang der Hoelle
waren die besten.
Als er am nächsten Tag das Foyer der Firma betrat, in der er arbeitete, bemerkte Reisiger bereits am Blick der Empfangsdame diese gewisse erregte Ängstlichkeit, mit der man Menschen begegnet, deren Verwicklung in ein Verbrechen soweit geht, daß man ihre Gesichter in Zeitungen bestaunen kann. Und Reisigers Gesicht tauchte in einer ganzen Reihe von Blättern neben dem der Schlagersängerin auf, einmal sogar zwischen ihrem und der ihres Gatten, was sich natürlich eignete, Irrtümer zu provozieren. Weniger oft hingegen war das Gesicht des Toten zu sehen, vielleicht auch nur, weil die Zeitungen über kein aktuelles verfügten. Sehr wahrscheinlich füllte Reisiger – Reisiger, der Passant – bloß eine Lücke und war anstelle des Toten so oft zur Abbildung gekommen. Wie auch immer: Er wirkte auf diesen Fotografien ausgeruht, auf eine zurückhaltende Art vergnügt, auch jünger, als er war, nicht wirklich wie ein Opfer, und schon gar nicht wie ein an der Hand verletztes, wenngleich natürlich eine solche Verletzung sich nicht unbedingt in einem Gesicht widerzuspiegeln brauchte. Aber wer wußte das schon? Die Leute sahen diese Bilder und dachten sich, daß ein derart erholt aussehender Mensch nie und nimmer ein Opfer sein konnte. Eher ein Spekulant, der richtig spekuliert hatte.
»Schönes Foto«, sagte Reisigers Sekretärin und klopfte mit einem ihrer kleinen, dicken Finger auf das Papier der aufgeschlagenen Tageszeitung.
»Wen meinen Sie?« fragte Reisiger im Ernst, welcher selbst noch keinen einzigen Blick auf eines seiner Porträts geworfen hatte.
»Na, Ihr Bild hier. Ich dachte immer, auf solchen Aufnahmen müsse man schrecklich aussehen. Wie ein Kaninchen oder Massenmörder. Oder als hätte man eine Geschlechtsumwandlung hinter sich. Sie aber machen einen ganz prächtigen Eindruck. Man erkennt Sie kaum.«
»Ich hoffe«, meinte Reisiger mit einer grauen, harten Stimme, »ich bin heute wieder der alte.«
»Kann ich bestätigen«, erklärte die Frau. »Es muß wohl an uns hängen. Sie mögen uns nicht, die ganze Firma nicht. Ist doch so, oder?«
Sie selbst, die Sekretärin, gehörte zu den vielen, die diese Firma liebten. Sie hätte für das Unternehmen ihr Haus und ihren Mann aufgegeben. Auch einen möglichen Liebhaber. Was weniger mit einer pathologischen Anhänglichkeit zu tun hatte, schon gar nicht mit irgendeiner Not, sondern mit dem identitätsstiftenden Charakter eines Betriebes, in dem Tonarme erzeugt wurden, welche die Schönheit und Perfektion natürlicher Gliedmaße besaßen, Tonarme, für die selbst Leute in China ins Schwärmen gerieten. In ein Schwärmen, wie nur wenige Kunst es hervorruft, außer die Musik selbst, in der die Schwärmerei wie ein Embryo angelegt ist.
Die Sekretärin hatte natürlich recht. Reisiger wirkte immer ein wenig unglücklich, wenn er dieses Gebäude und dieses Zimmer betrat, das hoch und breit und mit geschwungenen Wänden und geschwungenen Schreibtischen seinem eigenen vorgelagert war. Er hätte lieber Mondkarten studiert oder auch nur seine Tage mit Spaziergängen verbracht.
Anstatt aber auf den Vorwurf seiner Sekretärin einzugehen, einen Vorwurf, der sich ständig wiederholte, fragte Reisiger nur: »Etwas für mich?«
»Dr. Moll möchte mit Ihnen sprechen. Um elf in seinem Büro. Er will wohl wissen, wie es Ihnen geht. Nach dieser … Episode.«
»Noch was?«
»Ein Herr Pliska wartet auf Sie.«
»Pliska?«
»Ich habe ihn gebeten, in Ihrem Büro zu warten.«
Nun, das entsprach an sich der Usance. Zumindest im Falle angemeldeter Personen, die zu früh kamen oder eine Verspätung Reisigers abzuwarten hatten und die man ruhigen Gewissens in sein Büro führen konnte, welches ein Musterstück an Unpersönlichkeit darstellte. Nüchtern, modern, hell und stets aufgeräumt. Ein Saustall, ein noch so kleiner, ergab sich ganz einfach nicht. Von Computer und Telefonanlage abgesehen war sein Schreibtisch eine leere Fläche. Keine Fotos seiner Frau oder seiner Kinder, keine Unterlagen, keine Entwürfe, kein Zeichen von Fleiß. Fleiß war für Reisiger auch nicht wirklich ein Thema. Er hatte gute Einfälle, die er vernünftig verwaltete.
»Ich kenne niemand, der Pliska heißt«, erklärte Reisiger.
»Er hat auch keinen Termin«, stellte die Sekretärin fest.
»Was will er dann?«
»Ich weiß es nicht. Ich dachte, daß er vielleicht mit dieser Geschichte …«
»Sie können doch nicht einfach jemand, der ohne Termin ist, in mein Büro lassen. Wie
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