Der Umfang der Hoelle
empfand dies Reisiger so – waren Pliskas Augen, die man für das Produkt eines wahnsinnigen Optikers halten konnten, Maschinenaugen, zusammengesetzt aus den Scherben eines giftgrünen Parfümflakons, das irgendeine sensible Gräfin auf den Marmorboden ihres Badezimmers geschmettert hatte. Ja, angesichts dieser Augen mußte man ganz einfach an Gräfinnen und Hysterie und vornehm kalte, steinerne Böden denken. Diese von Drogen polierten Augen waren von einer derart scharfen Helligkeit bestimmt, daß man bei aller Schönheit nur ungern hineinsah, wie man ungern in das Licht einer Glühbirne sieht.
Im Einklang mit dieser Beobachtung zog Pliska eine kleine, vergoldete Schmuckdose aus seinem Jackett, hob den Deckel an und griff sich aus einer Menge rosafarbener Kügelchen zwei, drei Stück heraus, die er mit dünnen, gabelartig gebogenen Fingern zwischen seine Lippen schob. Er tat dies ruhig und ohne daß etwa seine Hände gezittert hätten. Offenkundig gehörte er zu denen, die ihre »Medizin« wenigstens zur rechten Zeit einnahmen. Schluckend meinte er: »Ein Büro, in dem es sich leben läßt.« Und fügte mysteriöserweise hinzu: »Wenn man an das Leben glaubt.«
Reisiger aber ignorierte die Bemerkung. Ihn beschäftigte etwas ganz anderes: »Wo ist eigentlich Ihr Hund?«
»Komm her, Vier! Zeig dich!« rief Pliska, dessen rötlicher Teint weniger auf Urlaube im Süden oder das Leben in Sonnenstudios verwies als auf einen phasenweise recht hohen Blutdruck, den wiederum der notorische Konsum von Amphetaminen verursachte. Pliska verabreichte sich eine Unmenge dieser Stimulanzien, tat dies mit Hingebung und Konsequenz, und wenn man seine Tagesrationen bedachte, war es ein Wunder, daß er nicht explodierte. Tatsächlich bewegte er sich auf einem schmalen Grad, aber eben auf einem Grad, der im richtigen Wechsel der sich zum Teil konterkarierenden Substanzen bestand.
Pliska rief also nicht etwa »Struppi« oder »Nero« oder »Churchill«, sondern tatsächlich »Vier!«, woraufhin ein eher kleiner Hund, den kurzen Schwanz hoch aufgerichtet, hinter dem Schreibtisch hervorkam. Er besaß ein schmales Gesicht, eine längliche Schnauze, stehende, blattartig spitze Ohren und offenbarte den für kleingewachsene Mischlingshunde typischen unmenschlich treuherzigen Blick. Ein Blick gleich einer devoten Anklage. Einer Anklage gegen eine Welt, in der das beste Essen auf hohen Tischen landete.
Die Zeichnung des kurzen, glanzlosen Fells bestand aus verschieden großen, schwarzen Flecken auf weißem, stellenweise ein wenig gräulichem Hintergrund, gerade so, als würden ein paar dieser Flecken abfärben. Verglichen mit der Kürze des Leibs, stand der Hund auf relativ hohen Beinen, was den genauen Beobachter auf den Gedanken bringen konnte, daß Pliska und sein Hund also doch etwas gemein hatten. Der linke, hintere Lauf jedoch war von einem Holzstock zur Gänze ersetzt. Zwangsläufig humpelte der Hund. Zwangsläufig ergab dies einen Anblick, der geeignet war, ganze Herzen zu erweichen.
Auch Reisiger konnte nicht anders, als gerührt zu sein. Der berühmte Stich in die Brust ereilte ihn. Beinahe hätte er gefragt, warum denn dieser Hund so dünn sei. Freilich war das Tier in keiner Weise ausgemergelt, sondern schlichtweg drahtig. Die Frage, die Reisiger dann stellte, war die nach dem Namen: »Vier?«
»Ja«, sagte Pliska, »der Name steht praktisch für das Bein. Der Name kompensiert den Mangel.«
»Das nützt dem Hund aber nicht viel.«
»Woher wollen Sie das wissen?« fragte Pliska und strich mit zwei geschlossenen Fingern über die Stirn des Tiers. Vier hatte sich neben Pliska auf seinem Hinterteil niedergelassen, wobei er mit großer Geschicklichkeit vorgegangen war, sein Holzbein in die gewünschte Position zu manövrieren. Für einen Moment wirkte Vier geradezu perfekt. Als seien Holzbeine ein so vernünftiges wie dekoratives Geschenk der Natur.
Reisiger unterließ es, weiter auf die Frage nach dem Sinn oder Unsinn einer ausgleichenden Namensgebung einzugehen, meinte statt dessen: »Es wäre vielleicht nett gewesen, Herr Pliska, Sie hätten sich vorher angemeldet.«
»Nicht meine Art«, verkündete Pliska. »Darum ja auch ein dreibeiniger Hund. Es ist erstaunlich, wie sich in Begleitung von Vier einem die Türen öffnen. Ich war neulich in der englischen Botschaft. Aus einer puren Laune. Man sollte annehmen, daß englische Botschaften und englische Botschafter vorsichtig sind. Mit so einem Hund aber, der sein Holzbein
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