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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Mittelscheitel aus in glatter Bahn ein 70er-Jahre-Gesicht einfaßte, woraus sich ein ähnlich portalartiger Spitzbogen ergab, wie die Messer der Hooligans ihn aufgewiesen hatten. Um eine Hooligan-Braut handelte es sich hier freilich nicht. Sie war jugendlich, aber nicht billig angezogen. Soviel verstand Reisiger von Mode. Auf ihrem engen, einen mittelgroßen Busen klar herausstellenden, beigefarbenen T-Shirt prangte in fetten, lackschwarzen, knapp gesetzten Lettern die Zahl »150 000 000«, was ja nichts anderes sein konnte als ein Zitat nach jenem berühmten Poem Wladimir Majakowskijs. Darauf wäre kein Produzent billiger Textilien gekommen, einen alten Russen zu zitieren.
    Zu diesem T-Shirt trug die Frau eine Hose mit der Musterung eines Orientteppichs, himbeerrote Sportschuhe, einen Armreifen, der aus Elementen von Gold und Kunststoff zusammengefügt war, sowie eine Umhängetasche, auf der sich, diesmal beige auf schwarz, die Majakowskij-Zahl wiederholte. Die Frau hatte ein dezent geschminktes, hübsches Gesicht, wobei Lippen und Nase eine leichte Übergröße hatten. Dennoch handelte es sich in keiner Weise um eine aufdringliche oder dramatische Hübschheit, wie etwa im Falle Tom Pliskas. Es fehlte dieser Hübschheit der Eindruck des Scheußlichen, außer man störte sich an der Tätowierung in Form eines schlangenartigen Wesens, das, aus dem Rücken aufsteigend, den vorderen Hals von der linken Seite her überquerte und hinter dem rechten Ohr wieder verschwand. Mehr ein Wurm als eine Schlange.
    Reisiger ging realistischerweise davon aus, daß es seine spezielle Zigarettenmarke gewesen war, welche die Frau animiert hatte, sich ausgerechnet an ihn zu wenden. Was auch sonst?
    Erstaunlich war nun aber, daß die Frau unterließ, was Reisiger hundertprozentig erwartet hatte. Sie stand nicht auf, um sich zu entfernen, sondern nahm eine noch seßhaftere Position ein und streckte in der Folge ein Bein von sich, während sie das andere anwinkelte. Sie inhalierte tief, blies tonlos aus und sagte: »Ich heiße Kim.«
    »Ach ja«, äußerte Reisiger ein wenig hilflos. Er konnte nicht ernsthaft glauben, daß sich diese Kim eine Plauderei zwischen ihnen beiden wünschte. Andererseits machte sie auch nicht den Eindruck, es nötig zu haben, etwa um Geld zu betteln. Oder vielleicht doch noch diesen Blumenstrauß mitgehen zu lassen.
    »Sie haben doch sicher auch einen Namen«, meinte Kim.
    »Was wollen Sie?« fragte Reisiger schroff.
    »Mein Gott, mit Ihnen reden. Finden Sie das abartig?«
    »Ich kann den Grund nicht erkennen.«
    »Ein Grund findet sich oft im nachhinein«, orakelte Kim. »Aber wenn Sie unbedingt was hören wollen, könnte ich sagen, ich gewöhne mir gerade das Rauchen ab. Leider rauchen Sie meine Marke. Sieht man selten.«
    »Eine unglückliche Begegnung«, stellte Reisiger fest.
    »Nicht so schlimm«, meinte die junge Frau. »Wahrscheinlich geht es mir viel mehr darum, mit dem Rauchen anzufangen als damit aufzuhören. Immer wieder. Also, wie heißen Sie?«
    »Leo. Leo Reisiger.«
    »Kim Turinsky«, sagte die Frau und reichte Reisiger die Hand. Ihr Griff, obgleich fest, hatte etwas von einem Gegenstand, der einem entgleitet. Der sich in der eigenen Hand verflüssigt. Sie bemerkte: »Zu Besuch hier, nicht wahr?«
    »Sieht man das?«
    »Sie sehen nicht wie jemand aus, der normalerweise seine Zeit an Flußufern vertrödelt. In fremden Städten aber tut man ja meistens, was man sonst unterläßt. Mit Anzug und Krawatte und Blumenstrauß, die Augen geschlossen, im Gras liegen.«
    »Ja«, sagte Reisiger, »ich bin auf der Durchreise.«
    Merkwürdigerweise verzichtete er darauf, zu erklären, wo er lebte. Nicht, daß er sich dafür hätte genieren müssen.* [* Er lebte in Stuttgart, wofür sich eigentümlicherweise eine Menge Menschen genieren. Es ist das dunkle Rätsel dieser Stadt: die übergroße Scham seiner Einwohner. Man könnte meinen, es handle sich hierbei um konvertierte Kannibalen, die ihre Abstammung verleugnen.]
    Wie um diesen Verzicht Reisigers auszugleichen, erklärte Kim Turinsky: »Ich stamme aus Ingolstadt.«
    »Aus dem Fegefeuer also.«
    »Halb so wild«, meinte die Frau. »Mehr Idylle als sonstwas. Wobei es vielleicht die Idylle ist, die die Menschen ganz verrückt macht.«
    »Was tun Sie in München?« wollte Reisiger wissen.
    »Autobahnen entwerfen.«
    »Wie bitte?«
    »Ich arbeite für ein Ingenieurbüro, das sich auf die Errichtung von Schnellstraßen spezialisiert hat. In Deutschland und

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