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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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nicht – wie er halb im Spaß dachte – mittels hemmungsloser Kartenstöberei die Existenz Purbachs zu verunmöglichen, verließ sein Zimmer und wechselte in das Büro seines Chefs.
    Sein Besuch bei Dr. Moll verlief in den üblichen Bahnen. Moll, siebzigjährig, robust, weißhaarig mit kleinem, pinseligen Zopf, vital an der Grenze zum Erträglichen, redete und redete und lief dabei im Raum auf und ab. Reisiger aber saß da, rauchte und tat wenig, um den Zuhörenden zu mimen. Moll war ein Vortragskünstler, jemand, der eine Lawine von Wörtern benötigte, um eine einzige Flocke zu erklären, es jedoch verstand, dieses Mißverhältnis als unumgänglich hinzustellen, weil es nun mal ein Unterschied war, ob man sagte, es schneit, oder auch erklärte, wieso eigentlich.
    Moll sprudelte über und füllte ungeschriebene Bücher. Dabei schien es ihm gleichgültig, ob sein jeweiliges Gegenüber bei der Sache war oder nicht. So betrachtet hatte auch jetzt alles seine Ordnung. Moll referierte über den Antrieb des sozialen Menschen, sich einzumischen, Position zu beziehen, nicht bloß Dinge zu wagen, die den Geist strapazierten, sondern eben auch mal etwas, das außerhalb der eigenen körperlichen Kapazität stand. Sprich: sich mit Messerstechern abgeben.
    Dr. Moll hielt es trotz aller Unvernunft für lobenswert und vorbildhaft von Reisiger, sich auf diese Konfrontation mit einem Haufen tollwütiger Rowdys eingelassen zu haben. Manchmal zähle eben nichts anderes als eine solche »spontane Intervention«, ein solches »Ablegen der Scheu vor dem Triebhaften, ja, dem Animalischen«.
    »Ich beneide Sie«, schloß Dr. Moll einen Wust von Überlegungen ab.
    »Worum?« fragte Reisiger, sein erstes hier gesagtes Wort sachte ausstoßend, ausatmend.
    »Um Ihre Tat natürlich«, erklärte Dr. Moll. »Ihre Verletzung vor allem. Was wäre eine Tat ohne erlittenen Schmerz? Sie verzeihen, aber was wäre Christus ohne Wunden?«
    Reisiger betrachtete den Verband an seiner Hand, der bereits ein wenig Patina angelegt hatte, mit neuem Interesse. Er lächelte müde bei der Vorstellung, zu welchen Einbußen seiner körperlichen Unversehrtheit ein Fred Semper hätte beitragen können, hätte nicht zuvor ein perfekter Messerstich dessen unwürdigem Leben ein Ende gesetzt.
    Unwürdig? Noch während Dr. Moll weiterfuhr, sich über die Grandiosität einer im Straßenkampf erlittenen Blessur auszulassen, begann Reisiger, eine gewisse Sympathie für diesen Fred Semper zu entwickeln. Gleichsam aus einer inneren Protesthaltung heraus, die sich gegen das allgemeine Arrangement richtete, Fred Semper sei der Bösewicht in dieser Geschichte. Nun, das schien er auch gewesen zu sein: ein plattnasiger Widerling aus geldfressender Familie, simpler Abschaum. Doch diese Eindeutigkeit störte Reisiger. Störte ihn ganz entschieden. Sein Mitgefühl für den Toten mochte irrational sein, ein Reflex, so wie man Straßentauben mag, nur weil der Großteil der Bevölkerung sie für scheußliche, unförmige Krankheitsüberträger hält. Welche Krankheiten, fragte Reisiger gerne. Schnupfen? Grippe? Röteln?
    Er selbst empfand Tauben, genau die, die zwischen unseren Füßen und unseren Autoreifen und zwischen den Beinen unserer Biergartenstühle herumpickten, für ausgesprochen schöne Tiere, edel und grazil, auch liebenswerter als dreibeinige Hunde. Überhaupt war ihm Pliskas Hund suspekt, trotz aller Rührung, die einen kurzen Moment lang auch ihn selbst in den Würgegriff genommen hatte. Vorbei. Hunde erschienen Reisiger ganz grundsätzlich als unseriöse Geschöpfe. Ihre Anhänglichkeit ausgerechnet gegenüber dem Menschen hatte etwas von der durchtriebenen Devotion von Versicherungsvertretern und Staubsaugerverkäufern.
    »Wie ich Sie kenne«, meinte Dr. Moll, »sind Sie nicht einmal stolz auf Ihre Tat.«
    »Sie wissen doch«, erwiderte Reisiger, »daß ich mir diese großartige Verletzung selbst zugefügt habe.«
    »Keine Ausreden«, sagte Dr. Moll, der noch nie bereit gewesen war, sich von bezahlten Mitarbeitern seine Begeisterung zunichte machen zu lassen.
    Damit war das Gespräch auch beendet. Reisiger durfte gehen.
    Als Reisiger am folgenden Tag früher als sonst sein Büro verließ, beugte sich seine Sekretärin leicht über den Tisch, wie um ihn mit ihren spitzen, kleinen Zähnen einzufangen. Sie fragte: »Wohin am Wochenende?«
    Nicht, daß sie das irgendwas anging. Aber es entsprach nun mal ihrer Art, auf eine offene, ungenierte Art Kontrolle

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