Der Umfang der Hoelle
vieler orangefarbener und etwas weniger ultramarinblauer Blütenblätter, die in helle, spitze Enden mündeten und gruppenweise aus kanuförmigen, mattgrünen Hochblättern nach allen Seiten herauswuchsen. Das jeweilige Hochblatt stand flaggenartig von einem robusten Stengel ab.
Soweit die Leistung der Natur. Aber auch die Leistung der Floristin ließ sich sehen. Sie hatte das halbe Dutzend Exemplare derart geschickt angeordnet, zudem stabilisiert, daß die Blüten ineinandergriffen und ein Muster bildeten, das von oben betrachtet den Eindruck einer leichten, luftigen Dachkonstruktion machte. Obgleich diesem Muster eine wirkliche Symmetrie fehlte, erschien das Gewebe als ein explizit gegliederter und durchdachter Gegenstand, perfekt in dem Sinn, daß es anders nicht möglich gewesen wäre, die Unversehrtheit der Blüten zu erhalten und gleichzeitig einen Strauß von vernünftiger Größe und Kompaktheit zustande zu bringen. Jedenfalls war offenkundig, daß hier eine Meisterin am Werk gewesen war, weshalb nun also doch der beträchtliche Preis gerechtfertigt erschien. Derartiges geschieht.
»Strelitzien«, stellte Kim Turinsky fest. »Wirklich schön. Und ich kann auch nichts erkennen, was einen befremden müßte. Kein abgeschnittener Finger und keine fette Spinne. Nicht einmal eine mysteriöse Frucht.«
»Trotzdem würde ich mich freuen, wenn Sie den Strauß behielten.«
»Aber gerne«, sagte die Frau, schob die Hülle über dem Blütendach wieder zusammen und verknotete die Ecken des Papiers, sodaß sich ein lockerer Verschluß ergab.
Reisiger war froh, das Ding los zu sein. Bereits als Kind war er, über eine Wiese laufend, Blumen ausgewichen. In der Art wie man großen Hunden ausweicht oder beim Anblick von Schlägern die Straßenseite wechselt. Daß er dennoch immer wieder floristische Fachgeschäfte betrat, um zu den üblichen Anlässen sich Sträuße anfertigen zu lassen, konnte nur zweierlei bedeuten. Entweder versuchte er den Schrecken dadurch zu bannen, daß er den Blumen – wohlgemerkt den geschnittenen – mit gespielter Gelassenheit entgegentrat, wie man betäubten Tigern und zahnlosen Giftschlangen begegnet. Oder aber Reisiger war schlichtweg ein Masochist, dem in lustvoller Weise das Blut gefror, wenn er einen Blumenladen betrat.
»Es ist Zeit für mich«, log er und erhob sich.
»Sie wollen mich loswerden, was?« meinte Turinsky.
»Um ehrlich zu sein, ich will die Blumen loswerden.«
»Kein Problem«, erklärte Turinsky, nahm den Strauß, holte aus und warf ihn in einem hohen Bogen in die Isar. Das Gebinde klatschte auf und produzierte ein hartes Geräusch wie von Steinen.
Da nun Reisiger bei aller Blumenaversion auch ein wirtschaftlich denkender Mensch war und ihn der Anblick absaufender Strelitzien an den Batzen Geld erinnerte, den er bezahlt hatte, meinte er verärgert: »Das hat niemand von Ihnen verlangt.«
»Wäre aber dumm gewesen«, sagte Turinsky, die nun ebenfalls vom Boden aufstand, »hätten die Blumen zwischen uns gestanden.«
»Was soll das jetzt heißen?« fragte Reisiger. Er war nicht so naiv zu glauben, daß diese junge Frau ein spezielles Faible für ältere Männer besaß. Ihr Faible mußte ein ganz anderes sein. Eines, das sein Mißtrauen verdiente.
»Sie könnten mich zum Essen einladen«, schlug Kim Turinsky vor.
»Warum sollte ich das tun?«
»Ich habe Sie von Blumen befreit, die Ihnen angst machten. Und die wegzuwerfen, Sie scheinbar nicht imstande waren.«
»Ich habe von ängstigen gesprochen, nicht von Angst. Angst ist etwas ungleich Größeres.«
»Kein Grund, mir nicht dankbar zu sein.«
»Umgekehrt«, tönte Reisiger. »Ich bin es, der Ihnen gerade geholfen hat, wieder mit dem Rauchen anzufangen.«
»Was soll’s?« meinte Turinsky. »Wir haben beide etwas füreinander getan. Ein Argument mehr, den Abend gemeinsam zu verbringen.«
»Eine Frage!« beugte sich Reisiger ein Stück vor, die Lautstärke seiner Stimme senkend. »Gibt es einen kommerziellen Grund für diese enorme Hartnäckigkeit, mit der Sie sich mir aufdrängen? Man kann ja über solche Sachen reden.«
»Sie meinen, ob ich eine Prostituierte bin?«
»Zum Beispiel.«
»Wirke ich so auf Sie?«
»Mein Gott, wer sieht heutzutage noch so aus, wie er aussehen sollte. Sind wir doch ehrlich, nicht nur jedes Fotomodell, auch jede dahergelaufene Schuhverkäuferin besitzt zwischenzeitlich die Attribute einer Gewerblichen.«
»Ich verkaufe keine Schuhe, ich baue Brücken«, erinnerte Kim Turinsky.
Weitere Kostenlose Bücher