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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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auszuüben.
    »Kennen Sie Purbach?« stellte Reisiger die Gegenfrage. »Purbach im österreichischen Garstner Tal?«
    »Eine herrliche Gegend«, sagte die Sekretärin und machte ein verträumtes Gesicht, als spreche man von einem Ort, an dem eben nicht nur die Luft eine bessere war, sondern auch Dinge wie die Liebe sich ungleich besser entfalten konnten.
    Reisiger sah zu, rasch nach draußen zu kommen.

Die Frau 150 000 000
    An diesem Freitag, ein paar Tage nach dem rechnerischen Antritt des Frühlings, überantwortete sich auch die Wetterwirklichkeit der neuen Jahreszeit, und zwar mit der Wucht einer überpersönlichen Blähung. Wenn man bedenkt, daß Reisiger gerade noch – wenn auch anderenorts – über vereiste Straßen gegangen war und dabei gemeint hatte, bei einem jeden Ausatmen würde sein Hauch kristallisieren und buchstabenartige Sternchen bilden, so war die Irritation zu verstehen, die er nun verspürte, als er am Nachmittag in München aus dem Zug stieg, hinaus auf die Straße trat und – platsch! – ein Kübel von Wärme sich über ihn ergoß. Diese Wärme, die ein leichter Wind vor sich herschob, besaß nicht jene vertraute Frische, jene kühle Unterpolsterung, wie man das Ende März hätte erwarten dürfen, sondern verfügte über den leichten Stich erster Sommertage, über eine gewisse Verbissenheit sowie einen Druck, der zwar niemanden matt setzte, aber dennoch geeignet war, so manchem Blutkreislauf einen Spiegel vors Gesicht zu halten. Und so manche Wallung zu verursachen.
    Zunächst einmal aber stieg Reisiger gleich wieder in den Untergrund hinab, wo ebenfalls eine Wärme vorherrschte, aber eine ganze andere, eine Art Küchenwärme oder Badezimmerwärme, jene feuchte Beengtheit, in der man meinte, die Pilze und die Kinder wachsen zu hören, unterbrochen von Stellen, an denen eine deutliche Kühle heraufzog.
    Reisiger hatte es fast schon wieder vergessen. Wie wenig nämlich das Innere der Münchner U-Bahn-Züge jenes urbane Moment der Geschwindigkeit und Mobilität abbildete. Trotz allem Gerüttel meinte man sich in einem Kabinett oder biederen kleinen Wohnzimmer zu befinden. Einem schaukelnden, einem seismographischen Wohnzimmer eben, das mit Furnierimitat ausgekleidet durch die Tunnels gezogen wurde. Während die Fahrgäste wie zu groß geratener Nippes wirkten.
    Leo Reisiger nahm sich nur wenig Zeit, um sein Hotelzimmer zu begutachten, seine kleine Reisetasche abzustellen, sich Hände und Gesicht zu waschen und seine Socken zu wechseln. Wenig später saß er wieder in der U-Bahn, die unwirsche Lautsprecherstimme des Fahrers vernehmend, welcher Station für Station den Leuten erklärte, wie er sich das Ein- und Aussteigen vorstelle, wobei er den Langsamen und Unentschlossenen riet, lieber auf den nächsten Zug zu warten. Reisiger war geradezu angetan von dieser Art von Unfreundlichkeit, die den Charme der Stadt besser beschrieb als eine Neue Pinakothek.
    Zurück an der Oberfläche, präsentierte sich Reisiger eine in das Wochenende quasi einbiegende Stadt. In den Geschäftsstraßen drängten sich Menschen mit papierenen, steifen Einkaufstaschen, auf denen die Logos bekannter Marken prangten und an Dörrpflaumen erinnerten. Man hätte auch meinen können, die Münchner würden kleine, edle Fichtenholzschränkchen spazierentragen.
    Als wollte Reisiger einem Dämon ins Gesicht springen, stürzte er sich in diesen Einkaufsfreitag, begab sich in die Geschäfte, erstand einen teuren Anzug, ein dickes Buch, massive Sonnenbrillen, eine Zigarre zum Preis eines Mittagessens, ein spätes Mittagessen zum Preis mehrerer dicker Bücher sowie – als Höhepunkt der Idiotie – einen Strauß Blumen, wobei er tatsächlich einfach »Blumen« bestellte und im übrigen der Verkäuferin die Entscheidung überließ. Er sah nicht einmal hin, welche Sorte sie einpackte. Doch an der Höhe des Preises konnte er erkennen, daß es sich bei diesem vollständig von Papier umhüllten Bukett um etwas völlig Abgedrehtes handeln mußte, mit Ziegenmilch gegossene Nelken, vegetarische Venusfallen, handbemalte Tulpen. So was in der Art.
    Wozu aber Blumen? Er wußte es selbst nicht. Denn als Präsent für Frau Bobeck wäre dieser Erwerb verderblicher Ware ja viel zu früh gekommen. Und hätte zudem eine viel zu große Umständlichkeit dargestellt, wenn man bedachte, daß wohl auch in Linz Floristen ihrem Gewerbe nachgingen. Nein, dieser Blumenkauf war in einem Moment völliger Gedankenlosigkeit erfolgt. Überhaupt bemerkte

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