Der Umfang der Hoelle
Reisiger, wie nun die Wärme des Tages seinem grundlos gehetzten Körper zu schaffen machte. In seinem Schädel brannte ein kleines Feuer, in seinen Füßen ein großes.
Das hinderliche Paket des Blumenstraußes in der Hand, Buch und Anzug in der anderen, sah er zu, dem städtischen Gewühl zu entkommen, aus der Anordnung von Einkaufsstraßen und historischen Gebäuden herauszufinden. Reisiger erreichte einen Marktplatz, in dessen Zentrum ein bestens besuchter Biergarten einen Anblick bot, der etwas von einer Revolution besaß, einer Revolution im Sitzen. Bei aller Lust auf ein Bier, Reisiger flüchtete in ruhigere Gassen, fand eher zufällig an das Ufer der Isar, überquerte eine Brücke und landete schließlich auf der breiten Rasenfläche, die sich entlang des an dieser Stelle vergleichbar schmalen Flusses zog. Auch hier tummelten sich eine Menge Menschen, doch ergaben sich bei einer solchen Weite des Raums vernünftige Abstände. Decken und Jacken waren ausgebreitet, da ja im Boden noch immer die alte Jahreszeit steckte wie harte Kerne im weichen Fleisch. Kinderwägen standen herum, Jogger traten Wege aus, Hunde jagten kreuz und quer, benahmen sich gazellenartig, geradezu selbstvergessen.
Verschwitzt und außer Atem ließ sich Reisiger am Rand zur Uferböschung nieder, entledigte sich seines Sakkos, zündete eine Zigarette an und sah hinunter auf das Wasser, dessen Wellen den Eindruck geschnitzter Bewegung machten. Im übrigen registrierte er einen Wind, der ungebremst und nahe am Wasser um einiges heftiger und kühler ausfiel als drinnen in der Stadt. Bald war Reisiger gezwungen, wieder in sein Jackett zu schlüpfen. Auch, um sich jetzt flach auf den Rücken zu legen, wobei er den Kopf auf das dicke Buch und den teuren Anzug bettete, seine Arme über der Brust kreuzte, einen Fuß in den anderen hakte und die Augen schloß. Intensiver als zuvor drangen nun die Rufe der Kinder an sein Ohr, das Gebell der Möchtegerngazellen, das Gelächter junger Menschen, deren Stimmen wie kleine Puppen im Wind hingen.
Er schlief nicht ein, döste bloß, beruhigte sich und seinen Körper. Er mochte zehn Minuten so dagelegen haben, als er jene Verdunkelung bemerkte, die man ja auch bei geschlossenen Augen feststellt, wenn selbige genau auf die Sonne gerichtet sind und sich ein Gegenstand zwischen das Licht und den eigenen, blinden Blick schiebt. Der ja so blind nicht ist, sondern in bestimmten Farben schwelgt. Da diese Einschattung, diese Verdüsterung eines roten Meeres anhielt und somit ein vorbeifliegender Ballon oder Vogel auszuschließen war, vermutete Reisiger, daß sich eine Person über ihn gebeugt hatte. Nun, derartiges geschieht und braucht nicht viel zu bedeuten. Möglicherweise wollte jemand die Uhrzeit wissen und versuchte, das Zifferblatt von Reisigers Patek Philippe abzulesen. Vielleicht aber blickte diese Person gar nicht auf Reisiger, sondern hinunter auf die Isar und war bloß ungebührlich nahe neben dem Liegenden zu stehen gekommen. Im schlimmsten Fall wollte jemand den Strauß Blumen stehlen, wogegen Reisiger nichts gehabt hätte. Im Gegenteil. Den Strauß nämlich wegwerfen konnte er angesichts der erlittenen Kosten nicht – noch nicht übers Herz bringen, sehr wohl aber, ihn sich rauben zu lassen. Und aus einer Laune heraus, empfahl er jetzt, ohne freilich seine Augen zu öffnen: »Nur zu.«
»Danke«, sagte die Stimme, die Stimme einer Frau. Und wenn Reisiger alle anderen Stimmen als blecherne, vom Wind bewegte Püppchen empfunden hatte, dann erschien ihm diese hier eher wie ein Flügelschlag, gleichzeitig kräftig und flüchtig. Einer von diesen Flügelschlägen, die Erdbeben auslösen.
Der dunkle Fleck schob sich aus dem roten Meer heraus. Reisiger spürte, wie die Trägerin der Stimme sich neben ihn setzte. Eine Kette feiner, undramatischer Geräusche folgte. Dann fragte die Frau: »Haben Sie auch Feuer?«
Reisiger öffnete die Augen, drehte den Kopf zur Seite, weg von der blendenden Sonne, hin zu der Person, die jetzt auf ihren Knien saß und Reisigers geöffnete Zigarettenpackung, die kurz zuvor noch zwischen seinem Kopf und dem Strauß Blumen gelegen hatte, in der Hand hielt. Es war eine junge Frau, aber kein Mädchen mehr. Mit Sicherheit über zwanzig und unter dreißig, überlegte Reisiger, der sich in Fragen des Alters mehr als einmal geirrt hatte, weshalb er seine Schätzungen nur noch großräumig anlegte. Die Frau hatte langes, hellbraunes Haar, das von einem leicht gebogenen
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