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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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»Und ich trage keine roten Lackstiefel, sondern rote Turnschuhe.«
    »Das ist es ja. Ich stelle mir vor, daß eine Prostituierte, eine, die nicht unbedingt zurückgebliebene Kleinbürger bedient, sich als schicke, aber keineswegs nuttenhafte Brückenbauerin offeriert. Während echte Brückenbauerinnen dagegen in Latexmontur auftreten.«
    »Das hat etwas für sich«, meinte Turinsky. »Aber in meinem Fall liegen Sie falsch. Ich bin ganz einfach hungrig. Ich meine, hungrig nach einem vernünftigen Essen.«
    »Bei Ihrem Job sollten Sie sich das eigentlich leisten können.«
    »Ich esse ungern alleine.«
    »Ich bin überzeugt, Sie kennen genügend Männer.«
    »Dummer Spruch«, urteilte Turinsky. Und drängte sodann: »Also, was ist? Wollen Sie mich wirklich verhungern lassen?«
    »Wohin wollen wir gehen?« fragte Reisiger, überzeugt, einen Fehler zu begehen. Allerdings auch im Bewußtsein, wie sehr Fehler dazugehörten. Daß sie dazugehörten wie Regen und verstopfte Straßen und schlechte Laune und Schuppen.
    »In die Manufaktur Orlog «, schlug Turinsky vor.
    »Klingt irgendwie teuer. Ich bin nicht reich«, sagte Reisiger. Wobei er nicht um sein Geld fürchtete. Was er fürchtete, war ein Mißverständnis.
    »Armani«, stellte Turinsky mit Blick auf jenen Anzug fest, der Reisiger als Kopfkissen gedient hatte.
    »Majakowskij«, erwiderte Reisiger und zeigte auf die lange Zahl, die Turinskys Busen schmückte.
    »Wir können uns die Rechnung auch teilen«, meinte die junge Frau.
    »Schon gut. Ich lade Sie ein.« Ein typischer Reflex. Typisch für einen Fünfzigjährigen, der sich nicht überwinden konnte, Frauen im Alter seiner Tochter eine Bezahlung zu überlassen. Als müßten diese Mädchen noch von Taschengeld leben.
    »Prima. Gehen wir«, bestimmte Turinsky, stellte sich neben Reisiger und faßte ihn am Arm. Sie hakte sich nicht richtig ein, sondern hielt sich an seinem Ellenbogen fest, den sie fürs nächste nicht mehr losließ. Eine Frisbeescheibe segelte über ihre Köpfe hinweg. Zwei Tauben stiegen abrupt in die Höhe. Der Fluß glänzte. Das Gras aber, über das sie dahinschritten, wirkte matt und staubig. Reisiger fühlte sich zugleich wohl und unwohl. Natürlich behagte ihm die jetzt große Nähe dieser jungen Brückenbauerin. Gleichzeitig ahnte er einen Schwindel. Er entließ einen klagenden Ton.
    »Warum seufzen Sie?« fragte Turinsky.
    »Ich seufze gerne«, meinte Reisiger. Mehr sagte er nicht.

Porzellan
    Ein Restaurant wie die Manufaktur Orlog war Reisiger noch nie untergekommen. Es war ihm sofort höchst unsympathisch. Nicht nur, weil es sich offenkundig um eine dieser Anstalten handelte, in denen man bereits für das Einatmen abgestandener Luft zur Kassa gebeten wurde und jeder noch so kleine Handgriff des Personals als übermenschlich galt, sondern vor allem auf Grund der artifiziellen Verbindung eines hochgestochen modernen mit einem abgründig antiquarischen Stil. Es war somit dieser kunstgeschichtliche Impetus, der Reisiger augenblicklich das Gefühl gab, eine gastronomische Schreckenskammer betreten zu haben.
    Das Orlog , im zweiten Stockwerk eines Bürokomplexes gelegen, wurde an sich von einer kühlen, sachlichen Architektur bestimmt, die völlig ohne Tageslicht auskam, wobei allerdings das Kunstlicht derart in Nischen, hinter Vorsprünge und in die Rückseiten hängender Wände eingelassen war, beziehungsweise durch das bläuliche Milchglas des Plafonds schimmerte, daß der ganze Raum in einer nebelartigen Helligkeit schwamm. Die mit Reispapier unterlegten gläsernen Tischplatten und dünnhäutigen Kellner besaßen dieselbe vage Transparenz wie im Falle von Objekten, die sich hinter einem Duschvorhang abzeichnen (darunter immerhin auch Mörder, wie man weiß).
    Wesentlich kompakter fielen dagegen die schwarzen Lederstühle aus, die allerdings über eine Schmalheit verfügten, die es wirklich dicken Menschen unmöglich machte, darauf Platz zu nehmen. Folglich waren wirklich dicke Menschen hier nur an der Bar zu sehen, die, aus purem Beton bestehend, sich über eine Seite des Raumes zog und hinter der die Flaschen ohne Spiegelbilder auskamen, statt dessen einen leicht kolorierten Schatten gegen das Weiß der Wand warfen. Das Weiß der übrigen Wände wurde in großen Abständen von kleinen Öffnungen unterbrochen, briefmarkengroßen Schächten, deren Funktion im unklaren blieb. Wenn sie denn eine besaßen. Weder existierten Monitore noch Kunstobjekte, auch keine Musik, dafür aber eine Art

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