Der Umfang der Hoelle
Lokalhund, ein massiger, vierbeiniger Mischling aus Neufundländer und Schäferhund, der wie ein letzter Rest von Natur diese weite Halle durchschritt oder bewegungslos zwischen den Stühlen lag. Von jedermann geduldet.
Der wesentlichere Kontrapunkt in diesem nüchternen Ambiente ergab sich nun aber aus dem Umstand, daß die Speisen auf altem Porzellan serviert wurden, auf Tellern mit geschweiften, goldenen Rändern, deren Bemalung nicht nur die üblichen Schmetterlinge, Blumen, Vögel und Ranken aufwies, sondern auch Liebespaare, Pferde, Landszenen und Motive aus diversen langjährigen Kriegen. So wurde etwa das Mineralwasser – welches lobenswerterweise zu jedem Glas Wein serviert wurde – ausschließlich in farblosen, aus den 1810er Jahren stammenden Gläsern ausgeschenkt, auf deren Wandungen man Bilder von Soldatenbegräbnissen zu sehen bekam. Was natürlich selten bemerkt wurde, auch von Reisiger nicht. Die Weingläser allerdings kamen ohne militärischen Bezug aus, wurden in pokalförmigen, üppig dekorierten Gefäßen kredenzt.
Obgleich all dieses Glas und Porzellan aus kostspieligen Originalen bestand, handelte es sich zugleich um einen ziemlichen Kitsch, einen Kitsch, der inmitten dieser Gefrierschrankarchitektur besonders ins Gewicht fiel. Auch war das Essen, das auf den schmucken Tellern serviert wurde, nicht dazu angetan, vom Kitsch abzulenken. Reisigers bestellter Spargel etwa bildete ein kaum wahrnehmbares, blasses, dreistreifiges Muster vor dem farbenfrohen Hintergrund einer Watteau-Szene. Es war wohl der Watteau, der hier das Gefühl der Sättigung hervorrufen sollte. Jedenfalls kritisierte Reisiger, daß dieses Gemüse mehr nach Kochwasser als nach sonstwas schmeckte. Wie ein Kuß, der weniger die Person des Küssenden widerspiegelt als vielmehr dessen Zahnarzt.
Durchaus zufrieden schien hingegen Kim Turinsky, die eingedenk der kleinen Portionen eine ausgedehnte Menüfolge orderte, eine unverschämt teure Flasche Wein auswählte, ihren Rehbraten passenderweise auf einer pittoresken Jagdszene gereicht bekam und eine ganze Stunde lang von einer Autobahnbrücke erzählte, die sie für einen japanischen Auftraggeber plante. Mitten in diese Brücken-Geschichte hinein, einen kobaltblauen Sockelbecher abstellend, fragte sie: »Nehmen Sie mich mit?«
»Ich verstehe nicht«, sprach Reisiger mit echter Furcht in der Stimme. Zumindest Befürchtung.
»Sie sagten, Sie würden morgen weiterfahren.«
»Na und?«
»Ich hätte Lust, mein Wochenende woanders als in München zu verbringen. Die Stadt verliert an Samstagen und Sonntagen bedeutend an Substanz. Sie schrumpft. Zieht sich zusammen. Wie bei Gefahr. Freitag geht noch, aber der Samstagabend ist deprimierend. Trotz Massen.«
»Ich fliege morgen vormittag nach Österreich«, erklärte Reisiger, als könnte diese Information abschreckender wirken als ein geschrumpftes München.
»Schön«, sagte Turinsky. »Wohin genau?«
»Ich werde in Linz abgeholt. Dann geht es nach Purbach. Purbach im Garstner Tal. Auf keiner Landkarte zu finden.«
»Klingt interessant.«
»Sie verlangen doch hoffentlich nicht, daß ich Ihnen ein Flugticket nach Linz spendiere.«
»Es geht nicht ums Spendieren«, erklärte Turinsky. »Es geht ums Wochenende. Es geht darum, rechtzeitig aus München herauszukommen. Sozusagen vor Verhängung der Quarantäne. Wir könnten den Nachtzug nehmen. Was halten Sie davon? Ich lade Sie auf einen Nachtzug nach Linz ein. Das ist besser als ein öder Flug am Vormittag, nicht wahr? Bedenken Sie, heute ist der letzte Tag vor Vollmond. Ein Beinahe-Vollmond ist fast noch schöner als ein richtiger Vollmond. Ein Beinahe-Vollmond ist wie eine betörende Braut, die nein sagt. Außerdem haben wir klaren Himmel. Wir könnten die ganze Nacht aus dem Fenster sehen, Zigaretten rauchen, Bier aus der Dose trinken und schwatzen.«
»Bier aus der Dose?« zeigte sich Reisiger erstaunt und betrachtete die sündteure Flasche Wein, die zwischen ihnen stand. Noch mehr freilich verwunderte ihn die Erwähnung des Mondes. Wie kam die Frau darauf, ihn ausgerechnet damit zu ködern? So absolut zielgenau.
»Warum nicht?« meinte Turinsky bezüglich der Dosen, nahm einen Schluck von ihrem Hundert-Euro-Wein und postulierte: »Alles zu seiner Zeit.«
»Ich bin zu Gast in diesem ominösen Purbach«, sagte Reisiger ausweichend. »Bei einem Mann, der glaubt, mich kennenlernen zu müssen.«
»Genieren Sie sich für mich?« fragte Kim Turinsky, Meisterin der Fragen.
»Darum
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