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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Nobelpreisverweigerer Bobeck eines dieser Modehäuser zu Ruhm und Wohlstand geführt hatte. Weshalb eigentlich? Im Dienste höchstpersönlicher Verhaltensforschung? Um sich abzulenken? Um die Kollegenschaft zu ärgern? Oder einfach, um sich ein Standbein zu schaffen, das geeignet war, den Rachen einer geldfressenden Verwandtschaft zu stopfen? Den Rachen der Sempers.
    Kurz nach Mitternacht verließen Reisiger und Turinsky das Lokal und bestiegen eine halbe Stunde später einen aus älteren Waggons zusammengestellten Zug, welcher tatsächlich nur spärlich besetzt war. Ein unangenehmer Geruch von Bierschweiß und verbranntem Staub lag in den Gängen. Der Boden war klebrig. Man ging darauf, als hätte man Saugnäpfe an den Sohlen. In dem Großraumwaggon, den Reisiger und Turinsky durchschritten, saßen finstere Gestalten, Typen vom Aussehen Fred Sempers. Viel Plattnasigkeit. Die beschuhten Füße auf den Sitzen. Klingonenherzen.
    Reisiger begann zu bereuen. Wurde aber durch den Umstand versöhnt, daß man ein freies Raucherabteil fand, dessen Sitze zwar eine beträchtliche Durchweichtheit aufwiesen, aber verstellbar waren, sodaß sich eine gemütliche Position einnehmen ließ.
    Mit einem leichten Ruck, als sei ein Band durchschnitten worden, setzte sich der Zug in Bewegung.

Reisigers Sex
    Obgleich Reisiger einen halben Nachmittag und einen ganzen Abend mit Kim Turinsky verbracht hatte, empfand er nun – eingeschlossen in die Abgeschiedenheit dieser Kabine – ein erneutes Gefühl der Verlegenheit. Was wohl schlichtweg mit dem Fehlen eines Tisches zusammenhing. Ein Tisch stellte eine probate Grenze zwischen zwei Menschen dar, eine Grenze, über die man scheinbar gefahrlos in das fremde Land schauen konnte. In einem solchen Zugabteil aber führte die Absenz eines Tisches zu einer Art experimentellen Situation. Als sperrte man irgendwelche Tiere in einen Käfig, um zu sehen, ob sie sich paaren oder zerfleischen würden.
    Nun, man konnte natürlich auch in einem Buch oder einer Zeitung lesen. Das Lesen lag exakt in der Mitte zwischen Paarung und Tod durch Zerfleischung.
    Reisiger, der am Fenster und mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saß, griff nach einem Packen Zeitschriften, der auf dem Nebensitz zurückgelassen worden war. Wie üblich las er nicht wirklich darin, registrierte bloß die Titelseiten, stieß aber zu seiner Überraschung inmitten dieser Blätter auf ein kleines, nur zwanzig Seiten schmales Bändchen, das in einem grauen, faserigen, an den Rändern rostrot patinierten Einband steckte und den Titel Über die Vergeßlichkeit und ihren heiligen Nutzen trug. Es handelte sich um die zweite Auflage eines Aufsatzes, gehalten 1945 an der Wiener psychiatrisch-neurologischen Universitätsklinik, während das Buch selbst ein Jahr später in einem Berliner Verlag erschienen war. Diese wortgetreue Wiedergabe des Vortrags trug den Untertitel Ein Plädoyer und stammte aus der Feder eines gewissen Felix von Haug.
    Die Überraschung, die Leo Reisiger in diesem Moment erlebte, war eine dreifache. Einmal dadurch, in einem solchen Stapel von Tageszeitungen überhaupt auf eine wissenschaftliche Abhandlung gestoßen zu sein. Zweitens aber verblüffte ihn noch viel mehr der Umstand einer derart weit zurückliegenden Drucklegung. Für Reisiger hatte es ganz grundsätzlich etwas Unwirkliches an sich, daß so kurz nach dem Krieg wissenschaftliche Vorträge gehalten und auch noch diesbezügliche Bücher herausgegeben worden waren. In seinem Bewußtsein war die Nachkriegszeit eine, die sich allein geeignet hatte, Häuser zu errichten, um die zerstörten zu ersetzen, und Kinder auf die Welt zu bringen, um den Mangel an Menschen auszugleichen, wie man in ein abgetretenes Fußballfeld neues Gras pflanzt. Daß er selbst in diese Zeit, zumindest ans Ende dieser Zeit geboren worden war, blieb ihm verborgen wie die Farbe eines Gegenstands im Dämmerlicht. Während er sich andererseits natürlich im klaren darüber war, daß in jeder Epoche, so schrecklich konnte sie gar nicht sein, Bücher herausgegeben wurden und daß der literarische und wissenschaftliche Ehrgeiz sich durch absolut nichts behindern ließ, es schlichtweg kein Einhalten gab, auch nicht im Angesicht einer Katastrophe. Dennoch wirkten die Publikationen der späten Vierzigerjahre mit ihren rauhen, bröckeligen Seiten auf ihn wie Fälschungen, die in Wirklichkeit sehr viel später entstanden waren, deren Vergilbtheit also eine künstliche darstellte.
    Am erstaunlichsten an

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