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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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ein Sonntagnachmittag in Bregenz? Vielleicht sogar steckte die Wahrheit tief im Körper einer Unwahrheit oder einer schamlosen Übertreibung oder verbarg sich in der Gestalt einer scheinbar bedeutungslosen Hautunreinheit. Wer konnte das schon wissen.
    »Worüber schmunzeln Sie?« fragte Kim Turinsky, die auf dem mittleren der drei in Fahrtrichtung gelegenen Sitze saß, sich von ihren roten Turnschuhen befreit und die schwarz bestrumpften Füße hochgelagert hatte.
    Reisiger hob den kleinen, grauen Band in die Höhe und erklärte in knappen Worten, worum es ging.
    »Schwachsinn«, kommentierte Turinsky. »Wie sollte man die Dinge vergessen können, solange man nicht zumindest den eigenen Schlaf, die eigenen Träume kontrollieren kann? Die eigene Lust. Die eigene Boshaftigkeit. Den meisten Leuten macht es durchaus Spaß, sich daran zu erinnern, was für Schweine sie sind.«
    »Aber es klingt doch verführerisch«, meinte Reisiger, »immer wieder bei Null anzufangen. Es geht ja nicht darum, wenn ich das richtig verstanden habe, gleich seinen ganzen Kopf zu leeren und jede gemachte Erfahrung zu tilgen. Getilgt wird der Schmerz, der an den Erfahrungen klebt.«
    »Aber die Leute lieben diesen Schmerz.«
    »Sie haben wohl noch nie einen echten verspürt.«
    »Natürlich gibt es Grenzen«, gestand Turinsky, »körperlich wie geistig. Grenzen gibt es immer. Aber im Prinzip wollen die Leute, daß es weh tut. Das, was sie jemand antun, genauso wie das, was ihnen angetan wird.«
    »Auch im Falle einer Folter?« fragte Reisiger.
    »Das ist ein heikles Thema. Wie sollte man etwas Richtiges dazu sagen können? Nein, die Folter muß man ausklammern. Denn selbst wenn es im Falle einer bestimmten Person tatsächlich so wäre, kann ich mich doch nicht hinstellen und behaupten, das Opfer hätte seinen Schmerz genossen. Manche Dinge kann man einfach nicht sagen, selbst wenn sie wahr sind.«
    »Ja«, meinte Reisiger nachdenklich. Diese Aussage, dachte er, könnte vielleicht auch für Felix von Haugs ungewöhnlichen Aufsatz gelten. Denn gerade dann, wenn der »praktische Arzt« mit seiner Theorie richtig lag, stellte es einen Frevel dar, sie aufgestellt und ausgesprochen zu haben. Wahrscheinlich bestand genau darin das Wesen der Wahrheit. Nämlich weder dick noch dünn oder was auch immer zu sein, sondern in gesagter Form frevelhaft anzumuten.
    »Ich persönlich«, erklärte Reisiger, »kann auf jede Art von Schmerz verzichten.«
    »Das glauben Sie ja selbst nicht.«
    Reisiger schwieg. Er wußte, daß Kim Turinsky recht hatte.
    Nach etwa einer halben Stunde Fahrt öffnete sich die Abteiltüre und der steife, wie ein Akkordeon gefaltete Vorhang wurde von einer stark beringten, von glänzenden, scharlachroten Fingernägeln abgeschlossenen Hand zur Seite geschoben. Den Fingernägeln folgte ein Gesicht, dessen polsterartig gebauschte Lippen über denselben feuchten Glanz und dasselbe tiefe Rot verfügten. Der Mund war leicht geöffnet, sodaß ein schwarzes Oval sichtbar wurde, aus dem ein »Hallo!« drang, das nicht nur einen ziemlich dunklen Klang, sondern bei aller Kraft etwas von jenen Dingen besaß, die nach einer langen Reise einen derangierten Eindruck machen. Sagen wir, die Stimme erinnerte an einen Jeep, der nach Durchquerung größter Wüsten wieder in einem relativ stillen Gäßlein parkte.
    Die Frau, die ungefähr im Alter Reisigers sein mochte, war eine auffällige Erscheinung, an der alles ins Breite und Schwere und Volle ging, ohne dabei wirklich monströs oder gar fett und unförmig auszusehen. Wenn Kim Turinsky in einem jugendlichen und schlanken Sinn sexy zu nennen war, so war diese Frau es eben in einem reifen und stattlichen. Sie trug ihr schwarzes Haar in auftoupierten Locken, wobei zwei gefestigte Strähnen in der Form von Angelhaken unter den Ohrläppchen hervorstanden und bis über die Wangen reichten. Das Gesicht besaß eine runde, glatte Form sowie den hellen, aber auch ein wenig blutig anmutenden Teint frisch geschälten Holzes. Eine kleine Ansammlung von Sommersprossen bedeckte den Nasenansatz. Die hellbraunen Augen steckten im teerig-schwarzen Rahmen der Wimperntusche. Ein Schwarz, das neben den Haaren eine weitere Entsprechung in jenem weitmaschigen Netz fand, welches über große Teile des kurzrockigen, jedoch mit langen Ärmeln ausgestatteten Kleides ausgelegt war, das in Schlieren unterschiedlicher Orangetöne aufleuchtete. Netz und Kleid wurden entlang der üppigen Taille von einem gelbgrünen Lackgürtel,

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