Der Umfang der Hoelle
diesem Werk über den heiligen Nutzen der Vergeßlichkeit war allerdings der Inhalt selbst. Reisiger, der sofort begann, die Schrift zu studieren – wobei er absatzweise und querbeet las – stellte fest, daß der Arzt Felix von Haug die ungewöhnliche Ansicht vertrat, daß es im Kleinen wie im Großen, im Persönlichen wie im Allgemeinen weit sinnvoller sei, negative Erlebnisse zu vergessen als sie zu reflektieren. Wobei er deutlich zwischen dem Vergessen und dem Verdrängen unterschied und letzteres sogar für ein Nebenprodukt der Erinnerungskultur hielt. Einer Kultur, die er für eine Reihe von Neurosen und vegetativen Störungen verantwortlich machte. Die Vergeßlichkeit hingegen, so von Haug, könne den Menschen helfen, weder in ihrer Schuldverstrickung noch in ihrer Opferrolle zu verharren, sondern gewissermaßen immer wieder von neuem auf einem Nullniveau aufzubauen. Und somit etwas zu entwickeln, was bislang noch gar nicht existiert habe: nämlich eine Gegenwart. Keine Utopie, keine Vergangenheit, nur ein Jetzt, in dem jeder gleich unschuldig sei, weil gewissermaßen gerade erst geboren.
Eine solche Lösung, gestand von Haug, sei selbstverständlich alles andere als gerecht, aber die einzig produktive Konklusion. Es gelte, die Vergeßlichkeit zu trainieren wie einen Muskel, gerade angesichts der so kurz zurückliegenden Kriegsgreuel, deren geforderte Aufarbeitung nichts anderes hervorrufen werde als einen Wettlauf um die beste Ausrede. Ganz abgesehen davon, daß sich sehr viel später eine bequeme Stigmatisierung der Epoche einstellen würde, eine Musealisierung der Untaten. Aufarbeitung sei im ernsthaften Sinne eine Illusion, zudem ein Instrument, ein gefährliches dazu. Die Vergeßlichkeit aber, wenn sie mit der Selbstverständlichkeit einer natürlichen Gabe und abseits moralischer Einwände betrieben werde, führe zur Befreiung des Menschen, zu einer Reinigung der Seele. Der Mensch, der vergißt, habe es nicht mehr nötig, eine Abwehrhaltung einzunehmen und sich hinter diversen Störungen der Psyche zu verschanzen. Gleichzeitig könne eine Nation, die imstande sei, den Gedanken an das Geschehene zu begraben, sich genau jenes schlechte Gewissen ersparen, welches notwendigerweise zur Umschreibung oder Verfälschung der Geschichte und einem Rattenschwanz offizieller und individueller Lügen führe.
»Sachen gibt’s«, murmelte Reisiger und sang kaum hörbar jenen berühmten Refrain Glücklich ist, wer vergißt, was doch nicht zu ändern ist.
Nachdem er also in dreifacher Weise überrascht worden war, stellte sich nun auch noch eine vierte Verblüffung ein. Denn entgegen der Vermutung, bei diesem Felix von Haug – der sich als »praktischer Arzt im eigentlichen Sinne des Wortes« bezeichnete – habe es sich um jemanden gehandelt, der recht bequem in den jeweiligen politischen Systemen verankert gewesen war, erwies es sich, daß von Haug viele Jahre in Konzentrationslagern verbracht hatte, nachdem er 1937 von seinen russischen Freunden an seine deutschen Feinde ausgeliefert worden war. Daß nun ausgerechnet ein solcher Mann eine psychologisch begründete Lanze für die Vergeßlichkeit brach und die Empfehlung ausgab, durch Erweckung und Training der »natürlichen Ausscheidung von Erinnerung« das Unglück des Krieges zu vergessen, jegliches Unglück, verwirrte Reisiger. Auch konnte er sich nicht vorstellen, daß Felix von Haug allen Ernstes dafür plädierte, den Holocaust schlichtweg der Vergeßlichkeit anheim zu stellen, also das Gegenteil von dem zu fordern, was bis zum heutigen Tage einem jeden anständigen Menschen als selbstverständlich erscheint. Nun war es aber so, daß in von Haugs Text die nationalsozialistischen Verbrechen keine explizite Erwähnung fanden, sondern recht allgemein von den »vergangenen sieben Jahren« die Rede war, die zu vergessen von einer jeden Person, gleich welche Rolle sie eingenommen habe, eine besondere Anstrengung bedeute, vergleichbar der Entschlackung eines vergifteten Körpers.
War dieser Felix von Haug verrückt gewesen? Ein Zyniker? Ein neurologischer Wirrkopf, den man versehentlich oder mit provokanter Absicht in heiklen Zeiten an der Wiener Uni hatte referieren lassen? Oder war es tatsächlich möglich, daß in diesem kleinen, wohl längst vergessenen Büchlein etwas wie eine Wahrheit steckte?
Wie überhaupt sah eine Wahrheit aus? Klein oder groß, dick oder dünn, verfügte sie über eine Farbe, einen Klang, einen Geruch oder war sie fade und farblos wie
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