Der Umfang der Hoelle
Enge, der Bildausschnitt des Fensters, die motorischen Geräusche, die gleichmäßige Vibration einer raschen Bewegung, der Luftzug, der frostig durch ein Gitter strömte, ja, in gewisser Hinsicht sogar der Umstand, zusammen mit den beiden Frauen wenigstens der Zahl nach eine klassische Apollobesetzung zu bilden, das alles half Reisiger in ungewöhnlich real erlebtem Ausmaß, sich vorzustellen, den illuminierten Erdsatelliten anzusteuern, sich wenigstens in einer größeren Nähe zu ihm zu befinden, als dies üblicherweise – auf der Erde stehend, auf Balkonen und Dächern und Bergen – der Fall war.
Nur hin und wieder verlor er den Mond aus dem Blick, dann, wenn der Zug noch tiefer in eine Senke eintauchte, dicht an einer steilen Erhebung entlangfuhr oder sich in einer Kurve vom Erdbegleiter abwandte. Immer mehr fiel Reisiger in einen traumartigen, von imaginierten Funksignalen begleiteten Zustand, in eine dieser Können-Sie-mich-hören-Houston-Phantasien voll sentimentaler Stimmungen und gleichnishafter Gedanken. Wobei er das zeitweilige Verschwinden des Mondes mit dem Eintritt in jenen Abschnitt einer Umlaufbahn gleichsetzte, welche an der dunklen Seite des Trabanten vorbeiführte. Denn bei aller Begeisterung für die sichtbare, studierbare, bereiste Seite des Mondes, war ihm diese Rückseite besonders lieb, erregte seine Vorstellungskraft wie alles, das man nicht zu Gesicht bekam, auch wenn natürlich Bilder von ihr existierten. Aber eben Bilder, die nicht zu überprüfen waren. Wer konnte schon sagen, ob die Wahrheit dieser Rückseite tatsächlich der kolportierten entsprach. Nicht, daß sich Reisiger Männer im Mond vorstellte. Auch keine Pyramiden oder Monolithen, aber etwa einen Krater, der die Form eines Quadrats besaß und auf den Einschlag eines perfekt würfelförmigen Asteroiden verwies. Vielleicht …
Es war eine Zunge, die Reisiger von der dunklen Seite des Mondes in die Realität des Zugabteils zurückholte. Nicht die eigene Zunge, versteht sich. Seine Lippen wurden auseinandergedrückt, dann auch noch seine Zahnreihen. Das fremde Fleisch schien sich inmitten seiner Mundhöhle geradezu aufzublähen. Reisiger war zwar nicht gerade am Ersticken, aber er hatte schon mal leichter geatmet.
Es war noch immer Nacht, der Zug noch immer in Bewegung. Der Mond stand noch immer am Firmament. Die fremde Zunge war aus Reisigers Mund herausgezogen worden und drängte sich nun ins eins seiner Ohren. Eine ganze Weile registrierte Reisiger nichts anderes. Als würde es das geben, autonome Zungen, die mir nichts, dir nichts schlafende Passagiere überfielen, um sie erotisch einzuwickeln. Doch mit zunehmender Nüchternheit wurde er sich des massigen Körpers bewußt, der sich über ihn gebeugt hielt. Sein Sitz, wie auch jener gegenüberliegende, waren so heruntergedrückt worden, daß sie an den Vorderkanten zusammenstießen und eine durchgehende Liegefläche ergaben, die gegen die Wände hin leicht schräg stand. Reisiger saß also nicht mehr, sondern lag so ziemlich ausgestreckt auf dem Rücken. Über sich den Leib, der zu der Zunge gehörte.
Obgleich Reisiger kaum etwas erkannte, war ihm rasch klar geworden, daß es die schwerbrüstige Fremde war, die da auf ihm hockte. Es war ein im wahrsten Sinne blinder Reflex, der ihn dazu veranlaßte, ihr an die Taille zu greifen, während sie sich wieder aufgerichtet hatte. Reisiger bekam sowohl den breiten Gürtel als auch das über dem Kleid liegende Netz zu fassen, während er gleichzeitig die Gewölbtheit dieser Stelle registrierte, nicht zuletzt auf Grund des in die Höhe geschobenen Rockes. Im schwachen Schein, der durch das Fenster drang, gewahrte er jetzt die roten Lippen im breiten Gesicht sowie die weiße Haut der entblößten, aus dem Dekolleté hängenden Brüste. Die Warzen standen gerade in den Raum, mitunter aufleuchtend wie eins der Zugsignale, an denen man vorbeifuhr. Für einen Moment war Reisiger nur noch der kleine Junge, der sich wünschte, von diesen Brüsten erschlagen zu werden. Nicht, daß er sie auch berührte. Immerhin war ein Teil seines Bewußtseins gerade damit beschäftigt, zu überlegen, ob er noch bei Vernunft war.
Die Situation, in der er sich befand, war nicht nur pornographisch zu nennen, sie war hyperpornographisch. Denn entgegen jener inszenatorischen Praxis, in welcher dem sexuellen Treiben ein kurzer oder sehr kurzer Dialog vorangestellt wird, ein winziges Geplänkel, eine miniaturhafte Handlung, eine Alltagssatire, war in
Weitere Kostenlose Bücher