Der Umfang der Hoelle
eine Anordnung traf: »Beruhigt euch! Aber schnell!«
Die Leute erstarrten. Und wer Pech hatte, erstarrte eben in ungünstiger Position.
»Seid ihr verrückt geworden?« fragte Siem Bobeck seine Verwandtschaft. Und fragte auch, ob sie denn vorhätten, hier ein Blutbad anzurichten. Ein Blutbad, das sie bis ans Ende ihrer Tage ins Gefängnis bringen würde.
Gerda Semper erklärte, daß es so schlimm wohl nicht werden würde. Man habe diesen dramatischen Weg gewählt, weil … tja, Fred hätte sich sicher einen solchen gewünscht. Und verdiene ihn ja auch. Er sei nicht der Kretin gewesen, als den alle ihn darstellen würden. Ein schwieriger Mensch, das schon, aber kein Widerling, kein Verbrecher.
»Es ist aber wohl ein Verbrechen«, stellte Bobeck fest, »in ein Fest zu platzen und Geiseln zu nehmen.«
»Das ist richtig, Siem. Dann sind wir jetzt also Verbrecher. Das ist traurig, aber nicht mehr zu ändern. Und damit es sich auch lohnt, müssen wir die Sache zu Ende bringen. Ein Verbrechen, das man auf halber Strecke abbricht, das wäre dann ein wahrlich trostloses Verbrechen. Und die Verbrecher komische Figuren. Wir Sempers wollen aber keine komischen Figuren sein. Auch wenn du und deine Frau uns dafür haltet.«
»Wir halten euch für Schmarotzer«, sprach Claire Rubin. Ihre ganze Haltung verriet, daß ihr ein paar Pistolen und Pumpguns nicht das Nervenkostüm zerreißen konnten.
»Das wird sich noch herausstellen, wer hier die Schmarotzer sind«, sagte Gerda Semper. Das Keifende ihrer Stimme funktionierte jetzt nur noch als ein Untergrund. Beinahe konnte man meinen, sie verwandle sich, mutiere. Sie wirkte jetzt beherrschter als noch kurz zuvor, ihre Bewegungen fielen weniger hektisch aus und ihren Worten fehlte der bellende Ton. Wenn auch nicht die Beißkraft. Sie verkündete, daß es zunächst einmal nötig sei, der ganzen Angelegenheit mehr Ordnung zu verleihen. Wenn hier also hundertfünfzig Leute herumstehen würden, bedeute das auch, daß sich hundertfünfzig Handys in hundertfünfzig Jacken- und Handtaschen befänden. Und natürlich sei die Versuchung groß, sie auch zu benutzen.
Jeder der solcherart Angesprochenen erwartete nun, sein Handy, seinen kleinen Draht zur Welt herausziehen und auf den Boden legen zu müssen. Aber das Gegenteil war der Fall. Gerda Semper forderte die Gäste auf, ab sofort zu telefonieren. Und zwar pausenlos. Ausnahmslos.
»Ruft an«, sagte sie, »wen ihr anrufen wollt. Die Polizei hier oder in Deutschland, eure Freunde, eure Kinder, die Presse. Aber telefoniert. Wir wollen nicht sehen, daß einer von euch damit aufhört. Erzählt, was gerade geschehen ist. Wenn niemand mehr mit euch reden möchte, ruft die Zeitansage an, den Wetterdienst, die telefonische Seelsorge. Aber redet. Ich will hier niemand haben, der schweigt. Solange ihr in euer Telefon hineinquatscht, wird euch nichts geschehen. Ich hoffe, daß das einem jeden klar ist. Wer sein Geld sparen möchte oder – wenn’s das gibt – kein Handy hat, soll wenigstens so tun, als würde er telefonieren. Das ist kein Witz. Es wäre dumm, würde es einer dafür halten. Ihr sollt beschäftigt sein. – So, Siem, du und deine Frau, ihr kommt mit uns. Wir wollen uns unterhalten, während hundertfünfzig Leute tun, was sie am besten können.«
»Was du selbst am besten kannst«, erinnerte Claire Rubin. »Ich weiß das. Schließlich zahlt Siem jeden Monat deine Telefonrechnung.«
»Ja. Es ist schöner, mit jemandem zu sprechen, ohne ihn anschauen zu müssen. Das wäre mir in deinem Fall, Claire, auch lieber. Aber wir müssen das schon persönlich ausfechten, Madame Norge.«
»Wie stellst du dir das vor? An den Haaren reißen, Augen auskratzen?«
»Laß uns einfach mal den Raum wechseln«, bestimmte Gerda Semper und wies mit dem Kopf in Richtung des Trakts, in dem der Salon lag.
Die gesamte Familie Semper und die beiden Bobecks setzten sich in Bewegung. Zurück blieben die Gäste und das Personal, die längst die Form eines Omegas eingebüßt und sich in der Mitte zu einem kreisrunden Haufen zentriert hatten, der von den sechs jungen Männern umstellt wurde, welche ihre Waffen wie paradierende Soldaten an die eigene Schulter gelehnt hielten. Es sah nicht so aus, als würden sie ernsthaft vorhaben, davon Gebrauch zu machen.
Es ergab sich nun aus der großen Menge gleichzeitiger Handygespräche, die natürlich zuallererst mit der österreichischen und der deutschen Polizei und ähnlichen Behörden geführt wurden, das Problem
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