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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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lustvoll überlegt. Wobei sich die Überlegung darauf bezog, wer es denn eigentlich am ehesten verdiene, diese Aggression abzubekommen: der widerliche Tischnachbar, der ungnädige Hausarzt, der präpotente Vorgesetzte? Nun, das überlegen sich natürlich die meisten, bloß daß Regina zu einer beträchtlichen Enthemmung führte, bei gleichzeitigem, glasklarem Bewußtsein bezüglich der Folgen. Aber das Ausleben der Aggression war praktisch über jeden Zweifel erhaben. Dominant und selbstherrlich. Eine Aggression, die körperlich wie verbal ausfiel und dem Chemiker einige Schwierigkeiten bescherte. Aber wie gesagt, damit hatte er gerechnet. Regina sollte ja auch bloß die Vorstufe einer Entwicklung darstellen.
    Womit er nun nicht gerechnet hatte, war der Umstand, daß bei einem zweiten Versuch etwas wie eine Psychose eintrat, wie man dies eigentlich erst nach einem chronischen Gebrauch hätte erwarten können. Und einen solchen hatte der vernunftbegabte Finne keineswegs im Sinn gehabt. Diese Psychose, wenn es denn überhaupt eine war, bestand nun darin, daß der Finne im Moment seiner Aggressionsausübung gewissermaßen in den Körper der von ihm attackierten Person schlüpfte, derart, daß er deren Angst, deren Betroffenheit, deren Schmerz oder nicht zuletzt deren Verachtung eins zu eins erlebte, schlimmer noch, daß er sich selbst sah, wie man eben in einen Spiegel sieht und einen Kontrahenten erkennt.
    Der Chemiker stand in dieser Situation also wirklich in den Schuhen seines Gegenübers und betrachtete die Welt von diesen Schuhen aus. Das alles noch immer im vollen Bewußtsein dessen, was geschah. Folglich einem Dilemma ausgeliefert, welches durchaus vergleichbar war dem des Schachspielers, der gegen sich selbst spielt. Er war gleichzeitig Zuschlagender und Geschlagener, Rückschläger und Empfänger des Rückschlags, völlig eingebunden, ja eingeschlossen in ein Hin und Her, allerdings mehr auf der Seite seines Gegenübers als auf der eigenen stehend.
    Was aber vor allem wog, das war der Ekel, der ganz automatisch entsteht, wenn man sich in einem fremden Leib aufhält. Man stelle sich vor, in ein Stück warmes, fettiges Rindfleisch eingewickelt zu sein. So in etwa fühlte es sich an, als der Finne in den Körper einer ihm unbekannten Frau hinüberglitt. Und zwar genau in dem Moment, als er ihr eine Ohrfeige verpaßte, weil sie sich unverschämterweise in der U-Bahn neben ihn gesetzt und ihn mit ihrer schweißigen Fülle bedrängt hatte. In eben diese Fülle gesperrt, spürte er jetzt das fremde Fleisch, spürte die Wut der Frau, ihre Überraschung, ihre Dumpfheit, und dabei war ihm dies alles näher als sein eigenes Fleisch, seine eigene Wut und etwas, das er nun – durch die fremden Augen gesehen – als seine eigene Dumpfheit empfinden mußte. Es war fürchterlich, nur schwer zu beschreiben, übertraf die Wirkung einer halluzinogenen Droge und war in jedem Fall dazu angetan, die Einnahme von Regina sofort abzusetzen. Froh darum, daß die Prügelei mit jener Sitznachbarin ohne juridische Folgen geblieben war.
    Das Ganze hatte etwas von A Clockwork Orange an sich, war freilich um einiges intimer, bestand ganz ohne Beethoven und bösen Staat, bloß aus ein wenig Chemie, die in einem idyllischen Gartenhäuschen zusammengebraut worden war. Wozu eigentlich? Nun, der Finne war ein echter Freund von Stimulantien. Ihm war vorgeschwebt, eine ganze Reihe neuer Substanzen zu entwickeln, um verschiedene intensive, leistungssteigernde Zustände zu erreichen. Auch er, der Finne, hielt Aggression für nichts anderes als einen Trieb, ein feststehendes Potential, das sich mittels biochemischer Manipulationen in so freundliche und feine Dinge wie Kreativität, Bildungssucht und sozialen Ehrgeiz würde verwandeln lassen, wie das ja bei einigen Menschen von sich aus der Fall war. (Man spürt es praktisch in einem jeden Kunstwerk und in einer jeden guten Tat: sublimierte Aggression.)
    So aber hatte es sich der Finne nicht vorgestellt. Ihm war angst und bang geworden, auch angesichts der vielfältigen Möglichkeiten, die eine Weiterentwicklung und Nutzbarmachung von Regina hätte nach sich ziehen können. Denn die Frage war: Was würde geschehen, wenn man die Dosis steigerte und eine langfristige Anwendung vornahm? Würde man aus dem fremden Fleisch und fremden Leib überhaupt wieder herausfinden? Würden Aggression und Gegenaggression ins Räderwerk eines Perpetuum mobile geraten?
    Was auch immer geschehen mochte, der Entdecker

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