Der Umfang der Hoelle
gesagt, man war überzeugt gewesen, Fred befände sich bereits in der von enormer Müdigkeit und lyrischer Schwermut getragenen Spätphase, after the run . Ein Irrtum. Aber das war es auch gar nicht, worauf es ankam. So schrecklich hart war der Tritt nicht gewesen, daß Bobeck eine ernsthafte Verletzung davongetragen hätte. Der Schmerz war freilich dagewesen. Und genau diesen Schmerz hatte auch Fred erlebt. In der Weise, wie der finnische Chemiker es beschrieben hatte.
Fred selbst erzählte später – nach einem vierundzwanzigstündigen Schlaf –, daß er im Moment des Zutretens deutlich gespürt hatte, wie ein teilweiser Wechsel erfolgt war. Ein Wechsel vom Treter zum Getretenen, ohne die Position des ersteren gänzlich aufzugeben. Versteht sich. Er hätte ja sonst auch kaum zutreten können. Gleichzeitig aber hatte er den Schmerz registriert. Den eigenen Schmerz am fremden Leib. Was gelinde gesagt, meinte Fred, ein perverses Gefühl ergebe. Als trage man die Unterwäsche von jemand anderem. Und zwar eine ziemlich verdreckte Unterwäsche. »Nicht jeder findet sowas geil.«
»Konntest du etwas von meinen Gedanken aufschnappen«, fragte Bobeck, den Grad der Imagination messend.
»Mein Gott, Onkel, das hätte noch gefehlt. Mir hat’s gereicht, daß ich da in deinem Unterleib hab stecken müssen. Schon grauslich.«
Es gefiel Bobeck ganz und gar nicht, wie hier über seinen Unterleib gesprochen wurde. Umso mehr, als ein Rest von Schmerz ihn quälte. Positiv hingegen stimmte ihn der Umstand, daß dem Vorfall unmittelbar ein EEG vorausgegangen war. Welches dann aber kein Ergebnis barg, das wirklich weitergeholfen hätte. Was dann weiterhalf – wenn man so will –, war der Film, genauer gesagt das eine Foto, welches Semper im Augenblick seines Unterleibtritts geschossen hatte. Zu Monas und Bobecks ungläubigem Staunen zeigte diese Abbildung nämlich nicht das schmerzverzerrte Gesicht Siem Bobecks, sondern das schmerzverzerrte Gesicht Fred Sempers.
Da nun der Kontrollraum, indem dies alles passiert war, unter ständiger Videobeobachtung stand, konnte man feststellen, daß Fred die Kamera nicht etwa von sich weggehalten und das Objektiv auf die eigene Person gerichtet hatte. Was ja alles erklärt hätte. Aber das war nun mal nicht der Fall gewesen. Nein, Fred hatte die Kamera in schönster Ordnung auf Bobeck gezielt, weshalb auch dessen Konterfei auf dem Foto hätte aufscheinen müssen. Unbedingt. Tat es aber nicht.
Noch spät in der Nacht saßen Mona Herzig und Siem Bobeck vor der Fotografie, immer wieder auch die Videoaufnahme betrachtend, die bestätigte, was sie nicht hätte bestätigen dürfen.
»Ich mag keine Wunder«, sagte Mona.
»Es gibt ja auch keine«, erklärte Bobeck, »nur eine Unkenntnis, vor deren Hintergrund Bäume reden und Gemüsesuppen denken. Was ich sagen will: Entweder trickst Fred, und wir sind zu dumm, das zu bemerken, oder wir haben es mit einem Phänomen zu tun, welches darin besteht, daß der Fotoapparat den Wechsel des Auges, also den Wechsel des Betrachters mitvollzogen hat. Was auch heißen könnte, das Auge fotografiert, nicht der Apparat, der dann also nur die technischen Voraussetzungen schafft.«
»Himmel, gütiger! Das ist ja Metaphysik«, stöhnte Mona, wie man stöhnt: Igitt! Das ist ja eine Spinne.
»Mit Metaphysik muß das nichts zu tun haben«, meinte Siem Bobeck. »Ich rede nicht von einem denkenden Fotoapparat, sondern von einem abhängigen Artefakt. Vielleicht haben wir bisher ganz einfach übersehen, welche tatsächliche Bedeutung das menschliche Auge für die Fotografie besitzt. Wie sehr der Apparat den Blick des Betrachters nötig hat. Eben genau darum, weil Fotoapparate keine selbständigen Wesen sind, die nach eigener Lust und Laune Bilder produzieren. Vielmehr bilden sie ab, was wir sehen.«
»Ich kann auch blind fotografieren. Diese ganzen Lomoleute tun das. Warhol hat es getan. Millionen von Touristen. Auch ein paar wirklich Blinde.«
»Sie betrachten aber immer, was sie fotografieren, auch wenn sie dabei nicht in den Sucher schauen«, entgegnete Bobeck. »Sie sehen an, was sie abgebildet haben möchten. Auch der Blinde noch. Er denkt das Bild. Und denkt das Bild über sein blindes Auge in die Kamera hinein. Selbst wenn wir den Fotoapparat auf ein Objekt in unserem Rücken richten, also über die Schulter fotografieren, wissen wir in der Regel, was da in unserem Rücken steht. Und wenn’s bloß eine Ahnung ist, dann entstehen eben verwackelte und
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