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Der Umfang der Hoelle

Der Umfang der Hoelle

Titel: Der Umfang der Hoelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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ein Kalenderblatt in einem Comic.
    Semper, der teils im Kontrollraum an die Geräte angeschlossen lag, teils im Institutsgelände »frei« herumlief, zeigte sich ungehalten, beleidigend und anmaßend. Ein wenig simulierte er. Aber das gehörte dazu. Wobei er in dieser Phase die Leute ausschließlich verbal attackierte, hochkomplizierte Kombinationen bekannter und erfundener Flüche entwarf und dabei durchaus zielsicher die Merkmale seiner Umwelt kommentierte. Wenn er jemand, den er gerade erst ein paar Sekunden betrachtet hatte, als achtäugigen, gynäkologisch versauten, ekzematischen Fix-und-Foxi-Legastheniker bezeichnete, konnte er später – nach Abklingen Reginas – zumindest darauf verweisen, daß dieser Kerl, der ihm da blöde im Weg gestanden war, erstens unter einer chronischen Hautentzündung gelitten hätte und zweitens über zwei Augen und sechs helle Hemdknöpfe verfügt habe: darum achtäugig. Die Legasthenie wiederum sei dem Kerl wie Rotz aus der Nase getropft. (Das mit der Legasthenie stimmte nicht; Regina führte zwar zu einem präzisen Blick, aber sicher nicht zur Hellsichtigkeit. Und was Fix und Foxi damit zu tun hatten, blieb völlig unklar. Wahrscheinlich pure Poesie.)
    Bei alldem trug Fred stets einen Fotoapparat mit sich. Gemäß einer Anweisung Bobecks. Der Proband sollte fotografieren, was er wollte und soviel oder sowenig, wie er wollte. Diese Bobecksche Methode wurde seit langem im Institut angewendet. Die so entstandenen Fotos – oder auch die eher selten einsetzende Fotografierverweigerung – waren für Bobeck und seine Mitarbeiter ein nicht unwesentlicher Bestandteil ihrer Analyse. Umso gewalttätiger die Menschen wurden, umso mehr fotografierten sie, eher Dinge als Menschen, eher Blumen als Tiere.
    Fred hingegen fotografierte ausschließlich Menschen, immer von der Seite oder von schräg hinten und immer ein wenig von oben herab, in bezug auf die Position, sodaß er mitunter gezwungen war, sich zu strecken und auf den Zehenspitzen zu stehen. Nachdem er aber begonnen hatte, einige Leute auch körperlich zu gefährden, schien sein Ehrgeiz darin zu bestehen, die Angegriffenen – genau im Moment der Attacke – frontal abzubilden, wobei er auch in dieser Hinsicht sich durch Gewandtheit und einen präzisen Blick auszeichnete.
    Es versteht sich, daß Semper weder mit einem Messer noch einem Baseballschläger durch die Gegend lief und daß ihm während dieser Schübe – scheinbar zufällig – einzig und allein versierte Mitarbeiter entgegenkamen, die Tätlichkeiten abzuwehren wußten, um so mehr, als Sempers Geschick beim Fotografieren wie in der verbalen Flegelei ungleich höher war als das seiner Kampfkunst. Alles blieb unter Kontrolle, jegliche Freiheit des Probanden war eine künstliche, gestellte.
    In Phasen, da man Semper einem kurzfristigen Entzug aussetzte, neigte er zu einer für ihn untypischen Schwermut. Eine Schwermut von der Art Traklscher Gedichte. Was Bobeck freute. Was ihn weniger freute, war die Tatsache, daß bei aller augenscheinlicher Veränderung in Sempers Verhalten – die entscheidend von seiner ursprünglichen Aggressionsform abwich, weniger spontan war, ausgewählter, umständlicher –, daß also bei alldem sich körperlich wenig Aufregendes ereignete. Zumindest nichts, was man nicht hätte voraussagen können. Nun, Bobeck und Herzig warteten natürlich auf jenen bestimmten Moment, den der finnische Chemiker erlebt zu haben behauptete: Spaltung in ein Ich und Du, bei gleichzeitiger Personalunion.
    Es war dann auch Bobeck, der dieses Ereignis höchstpersönlich erleben und erleiden durfte. Er war in den Kontrollraum getreten, in welchem man gerade ein EEG an dem zur Ruhe gekommenen Probanden vornahm. Wobei der Proband die strikte Anweisung hatte, seinen Onkel in Anwesenheit von Mitarbeitern niemals als Onkel zu bezeichnen. Und daran hielt sich Fred Semper, der hier einfach nur Fred war.
    Als nun das EEG beendet war, trat Fred an Bobeck heran und fragte ihn: »Sagen Sie, Professorchen, was treibt Sie eigentlich an?«
    »Mein Kopf treibt mich an.«
    »Nicht vielleicht doch die Eier?«
    »Sicher nicht.«
    »Dann stört’s ja wohl auch nicht«, meinte Semper, hob blitzschnell seine Kamera nach oben, richtete seinen Blick durch den Sucher und, während er abdrückte, holte er mit dem Fuß aus und trat Bobeck in den Unterleib.
    Es ging alles viel zu rasch, als daß Bobeck hätte ausweichen oder daß einer der Mitarbeiter rechtzeitig hätte einschreiten können. Wie

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