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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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San Marcos. Hundert Meter lang ist diese Fassade des schönsten Hotels von Europa, ein Gebäude wie ein statement : Damit bekräftigten Ferdinand und Isabella ihre Macht, und sie taten es dramatisch. Es ist immer schwer, sich vorzustellen, daß etwas, das Hunderte von Jahren alt ist, je modern war, aber die Geste kann kaum zu hoch eingeschätzt werden. Abschied vom Mittelalter in einer kleinen Stadt, die einige der schönsten frühmittelalterlichen Gebäude der Welt besitzt und in der die Renaissance nichts zu suchen zu haben schien. Es ist ein schwungvoller Abschied, die ganze Revolution in der Kunst prunkt da, auch heute noch. Plateresk heißt dieser Stil, und es stimmt, die Fassade wirkt wie aus plata , Silber, getrieben; wäre sie tausendmal kleiner, würde man an die raffinierteste or fèvrerie denken, so aber starrt man nur staunend auf diese Friese und Pilaster, die verschwenderische Fülle und den strengen Rahmen, in den sie gegossen ist, auf die biblischen und historischen Reliefporträts, eine europäische Ahnengalerie in Medaillons.
    Später am gleichen Tag sehe ich das Echo des Plateresken in den Portalen der Kathedrale von Astorga, auch sie ein Monolith, den eine Gewalt, deren Tragweite wir nicht mehr begreifen, in einen viel zu kleinen Ort geschleudert hat. Manchmal kann man es kaum noch ertragen, all diese Schwere, all diese ziselierten Gebirge, die im trägen, leeren Land liegen, gepanzert, leicht bösartig, vorweltliche Ungetüme, die auf ihren Tod warten. Natürlich kann ich es wieder nicht lassen und gehe hinein in diesen versteinerten Wald von Säulen, die ohne Kapitelle in die Höhe rauschen, hinauf zu den Gewölben. Draußen ist es bereits heiß geworden, und leicht benommen stehe ich da und versuche michan das kirchenförmige Licht zu gewöhnen. Ich bin der einzige Besucher, auch das noch, jetzt fällt mein Maß erst so richtig auf, das Maß eines Niemand.
    Kathedrale von Astorga
    Eine Eigenart vieler großer spanischer Kirchen ist der coro , der Chor. Damit ist ein von Mauern umschlossener Komplex gemeint, der mitten in der Kirche steht und an der Ostseite von übermannshohem Gitterwerk abgeschlossen ist. In dieser Abgeschlossenheit, die manchmal einen großen Teil einer Kathedrale einnimmt, kommen die Chorherren mehrmals am Tag zum Chorgebet zusammen, doch diese Konstruktion erweckt eigentlich den Eindruck, als hätten sie das Volk aus der Kirche vertrieben. Wer etwas von der Messe sehen will, wenn sie zelebriert wird, muß sich bemühen, daß er einen Platz vor dem Chor bekommt, denn wenn man die Kirche von hinten betritt und zum Altar gehen will, stößt man auf den trascoro , die verzierte Rückwand des Chors, im Grunde eine Kirche in der Kirche, die das eigentliche Kirchenvolk ausschließt. Die Kluft zwischen diesem Triumphbau und der Schlichtheit romanischer Kirchen könnte nicht größer sein. Es ist die Heimstatt des Klerus als Institution, als Macht, auf seine Basis zurückgezogen, nicht zugänglich: die Besitzer Gottes. Manchmal betritt man eine Kirche in dem Augenblick, in dem das Chorgebet im Gange ist. Ein paar alte Männer fächeln sich gegenseitig Psalmen zu, Gläubige sind kaum anwesend, ein Schiff ohne Passagiere, unterwegs nach nirgendwo. Ironie. Die Männer mit ihren violetten Beffchen sehen aus, wie Buñuel und Fellini sie uns überliefert haben, pittoresk, gutherzig oder bösartig, aber zu einer unwiderruflichen Vorzeit gehörend, filmreif. Jetzt, wo sie nicht da sind, traue ich mich zwischen ihre siebenundneunzig Stühle, das skulptierte Holz mit den Darstellungen von Kirchenvätern und Bischöfen glänzt vom jahrhundertelangen Sitzen und Hin- und Herrutschen. Ich wandere umher und versuche etwas aufzunehmen, aber er ist zu groß, zu triumphal, dieser Raum, oder ich bin übersättigt, das einzige, woran mein Blick hängenbleibt, ist etwas, was nun gerade nichts darstellt, ganz eigenartige geometrische Formen an den Sockelnder Säulen, wie ich sie noch nirgendwo sah. Also doch noch ein Rätsel, und damit gehe ich hinaus, oder vielleicht flüchte ich auch. Ich bin nun schon seit Wochen in diesem Land der Kirchen, und auf einmal kann es sich gegen einen kehren, dann kommt es einem so vor, als würden diese polychromen Heiligenbilder mit ihren eigenen Marterwerkzeugen aus all diesen übervollen Retabeln klettern und dem Besucher nachsetzen, um ihn zu vierteilen, kreuzigen, auf Roste zu legen, ihm die Augen auszustechen, ihn zu geißeln oder, noch schlimmer, ihm eine Ewigkeit

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