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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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ziehe, geht mir durch den Sinn, daß so und nicht anders die Einsiedlermönche herkamen, die ersten bereits im sechsten Jahrhundert. Sie entflohen der weiten Welt, der cosmopolis der Westgotenkönige, und lebten hier als Eremiten. Tébaida , einsamer Ruheort, Einsiedelei. Dreihundert Jahre später kommt Gennadius mit zwölf Gefährten hierher und baut eine Kirche, die im Jahr 919 geweiht wird. Von ihr ist nichts mehr übrig, nur noch ihre Abwesenheit in Form eines Steins, auf dem die Weihe beschrieben wird. Bergluft konserviert, hier fällt kein ätzender Regen, ich kann das Kryptogramm noch lesen: ... NOBISSIME GENNADIUS PRSBTR CVM XII FRIBUS RESTAVRABIT ... prsbrt, presbyter, fribus, fratribus, nobissime, jetzt, vor kurzem, modernamente will der spanische Führer, doch das war vor tausend Jahren, und wieder will der Gedanke sich etwas vorstellen, denn der Stein hat die Namen der Männer bewahrt, die dabei waren, die vier Bischöfe, die in langen Tagesreisen durch diese Berge gekommen waren, um die heute verschwundene Kirche zu weihen, Gennadio Astoricense, Gennadius von Astorga, der Stadt, aus der ich gerade komme, Frunimio legionense, León, wo ich heute morgen noch war, was damals aber mehrere Tagesreisen entfernt gewesen sein muß, Dulcidio Salamanticense, von Salamanca, eine Welt hinter den Bergen, Sabarico Dumiense, und ich weiß nicht, wozu dieses Adjektiv gehört, wenn nicht zuTúy. Das Datum nimmt eine ganze Zeile ein: SVB ERA NOBIES CENTENA : DECIES QUINA : TERNA ET QVATERNA : VIII O KLDRM NBMBRM , ihr November, unser Oktober, der 24. Oktober 919.
    Bischof, Mitra, Stab, ein Herbsttag, Kälte in den Bergen. Sie weihen eine Kirche, jemand meißelt das Ereignis in einen Stein, es muß mitgeteilt werden. Das klingt aktiv, und die Folge ist passiv: Ich habe teil an diesem lange zurückliegenden Ereignis und mache es wieder aktiv, indem ich es mitteile. Bischof, Mitra, Stab. Erst vorgestern sah ich im Fernsehen eine Reportage von einer Pontifikalmesse in der Kathedrale von Santiago. 15. Juli, Fest des Santiago, des Schutzpatrons von Spanien. Die Bilder erkannte ich wieder, den Pórtico de la Gloria, den botafumeiro , das legendäre Weihrauchfaß, das an dicken Seilen hoch oben im Gewölbe hängt und nur von acht Mann gemeistert werden kann. Nachdem der Weihrauch entzündet ist, lassen sie die Seile etwas lockerer, das Faß beginnt zu schwingen, sie ziehen die Seile wieder straff, und zum Schluß erreicht das Faß, das die Größe einer mittleren Landmine hat, eine beängstigende Geschwindigkeit und Höhe, es saust durch die gesamte Länge der Kirche, bis ganz hinauf und wieder zurück, eine lange, rauchende Bahn wie ein Kometenpendel, die Menschen, die es auf sich zukommen sehen, ducken sich und kreischen auf, bis sich die Männer wieder mit ihrem ganzen Gewicht an die Seile hängen, die Geschwindigkeit des heiligen Projektils nachläßt und der Größte und Stärkste sich in seine Bahn stellt und das Monstrum mit einem gewaltigen Tanzsprung auffängt und zur Ruhe bringt, Ende. Währenddessen steht der Erzbischof von Santiago die ganze Zeit, Stab und Mitra, im Rot der Märtyrer zwischen den anderen Mitraträgern. Er macht eine gute Figur, ein Idol in vollem Ornat, vis-à-vis vom Abgesandten des Königs, dem Marquis de Mondéjar, alt, weißhaarig, in Frack und Weste, schwarz in einem Spalier von Offiziersuniformen. Reformation, Kapitalismus, Aufklärung, industrielle Revolution, Marxismus, Faschismus, es muß schon eine zähe Substanz sein, die sich hier gehalten hat.Zweifellos läßt sich Intelligenteres darüber sagen, aber staunen darf man doch wohl.
    In dem anderen Santiago, dem von Peñalba, herrscht die Stille des Todes. Ich habe mein Auto am Dorfeingang abgestellt, neben dem einzigen anderen. Die Hauptstraße ist ein Pfad. Es riecht nach Kühen. Ich weiß, wo ich bin, im Reich des Schlafes. Häuser aus gröbstem Stein, düstere Ställe, Schieferdächer, die Böden der Holzbalkons werfen den Schatten, in dem ich mich aufhalte, eine Säulengalerie. Die Kirche ist geschlossen und wird erst um fünf Uhr wieder geöffnet, das steht auf einem Pappschild. Was ich sehe, ist das arabische Doppelportal, zwei feine Hufeisen, die auf drei schmalen Säulen ruhen, der Schmuck der orientalischen Welt taucht hier plötzlich zwischen den rohbehauenen Steinen auf, die die Farbe der Berge ringsum haben. Gipfel in der Ferne, kahle, angefressene Hänge, die Schleifen des Labyrinthwegs, auf dem ich gekommen bin. Der Schiefer

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