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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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kein verblendeter Tyrann, sondern der Staat, der nicht anders handeln kann, als er tut, ebensowenig wie Antigone es kann. Steiner beschreibt luzide ihre Positionen, wie Hegel sie sieht. Es gibt Situationen, in denen der Staat (Kreon) nicht bereit ist, auf seine Gewalt über die Toten zu verzichten. Es gibt Umstände – politische, militärische, symbolische (oder alle drei zugleich, wie in Spanien) –, unter denen die Gesetze der Polis Anspruch auf den Körper des Toten erheben können, für ein Staatsbegräbnis wie für dessen Gegenteil, das Verschwindenlassen der Leiche. Das Zerstreuen der Asche der in Nürnberg Gehenkten (sie blieben buchstäblich nirgends) und die Freigabe der Leiche von RudolfHeß mit all ihren trüben Folgen sind Beispiele der jüngeren Zeit für das gleiche Dilemma, der Mythos zeigt noch keine Mottenlöcher.
    Doch wir wollen bei Spanien bleiben. Hegel als étatiste ist keine neue Entdeckung. Aber er »versteht« auch Antigone. Sie ist nicht, wie Oidipus, ein Opfer des unentrinnbaren Schicksals, sie handelt, entscheidet sich, stellt sich den Gesetzen des Staates entgegen. Und doch ist ihre Tat nicht politisch, sie beruft sich auf Gesetze, die ihrer Ansicht nach eine höhere Macht repräsentieren als die des jeweiligen Staates. Kreon hat die Bestattung aus politischen Gründen verboten. Für Antigone (und dem Anschein nach auch für den spanischen Staat) hört die Politik mit dem Tod auf. Für die Toten können keine weltlichen Gesetze mehr gelten, sie weilen in anderen Regionen. Antigone, die Schwester, muß dafür Sorge tragen, daß es Polyneikes dort wohl ergeht. Sie darf ihn nicht wie einen Haufen Dreck auf der Straße liegenlassen. Sie ignoriert Kreons Verbot. Ihre Tat, die an sich nicht politisch ist, wird es damit. In Sophokles’ Drama verurteilt Kreon Antigone dazu, bei lebendigem Leibe eingemauert zu werden. Als er später sein eigenes Urteil ungeschehen machen will, ist es bereits zu spät. Auch sein Untergang ist nun unabwendbar. Zwei Ideen, zwei Menschen haben sich gegenseitig vernichtet. Für Hegel ist es damit noch nicht zu Ende. Der Konflikt ist auf die denkbar schärfste Weise zutage getreten und trägt dadurch zur Erkenntnis bei, die die Welt über sich selbst hat. Darüber mag man denken, wie man will, und das haben auch alle getan. Mitunter ist das überraschend, nimmt man zum Beispiel zwei Schriftsteller, die man, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, doch mehr oder weniger mit dem (einem) Staat identifiziert, wie Goethe und Brecht. Beide waren radikal gegen Kreon. Für Goethe war, was Kreon tat, ein »Staatsverbrechen«: Man läßt keine Leiche auf der Straße verwesen mit allen daraus resultierenden Gefahren für die Gesundheit der Stadt. Hier spricht eher der Verwaltungsbeamte als der Staatsmann. Ganz anders Brecht. Der Mensch, ungeheuer groß im Unterwerfender Natur, wird zum großen Ungeheuer, wenn er (wie Kreon es mit Antigone tat) andere Menschen unterwirft. Die DDR ist vielleicht der hegelianischste Staat, den es gibt, aber Brecht schrieb es dennoch so nieder.
    Was würde nun passieren, wenn der spanische Staat/Kreon nicht zulassen würde, daß Herri Batasuna/Antigone die Leiche der ETA /des Polyneikes begräbt? Ich weiß es nicht. Hier zeigen sich auch die Schwächen dieser Parallele. Antigone kann nie mehr »unschuldig« sein, sie hat sich selbst gelesen. Sie weiß nun auch, daß Kreon die Folgen seines Gesetzes kennt, wenn er es durchsetzt, geht er zugrunde. Auch sie ist jetzt von der Politik berührt, sie manipuliert das Naturgesetz, und das ist eine Perversität. Kreon braucht ihr Spiel nicht mitzuspielen. Auch die ETA weiß das, sie liefert regelmäßig einen neuen Polyneikes zum Bestatten. Was soll Kreon tun? Und welcher? Hegels Kreon, Brechts Kreon? Oder vielleicht Charles Maurras’ Kreon? Für Maurras war nicht Antigone der Rebell, sondern Kreon. »Kreon hat die Götter der Religion, die grundlegenden Gesetze der Stadt, die Gefühle der lebenden Stadt gegen sich.« Das ist für Maurras der Kern des Stückes. »Was er (Sophokles) zu zeigen unternimmt, ist die Bestrafung des Tyrannen, der sich von göttlichen und menschlichen Gesetzen freizumachen suchte. Es ist Kreon, der den Untergang des Staates herbeiführt. (...) Es ist Antigone, die die genau übereinstimmenden Gesetze des Menschen, der Götter und der Stadt verkörpert. Wer übertritt und mißachtet all diese Gesetze? Kreon. Er ist der Anarchist. Er allein ist es.«
    Auf diese Weise hat der

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