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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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spanische Staat genügend Optionen. Und wohlgemerkt – dies ist nicht nur ein Spiel. Ich nehme an, daß González und sein Innenminister Barrionuevo nicht mit Hegel und Maurras zu Bett gehen, aber sie werden sich doch entscheiden müssen, was für ein Kreon sie sein wollen, und dabei bedenken, daß jeder Kreon sich seine eigene Antigone schafft, und umgekehrt. Für den französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy ist es dagegen Antigone, die sich durch ihren Solipsismus aus der Gemeinschaft herausrückt, und der Priester-KönigKreon, der den Kontakt zwischen Göttern und Menschen verteidigt. Dieser Fürst von Theben ist auch und vor allem »ein Priester«. »Und die Wahrheit ist, daß er (...) der einzige Priester des Stücks (ist), der alles Sakrale beansprucht, wie es in einer Stadt wie Theben im späten 5. Jahrhundert denkbar war. Es geht nicht um ›Gesetz‹ gegen ›Glauben‹, vielmehr ist das eine mit dem anderen verschlungen, zum ›Gesetz des Glaubens‹ verknüpft, das die griechische Religion eigentlich ist.« Mit einem sakralen Königtum wird González wenig im Sinn haben. Sollte er eines benötigen, so ist wohl jederzeit ein Bourbone zur Hand.
    Er wird sich eher im scheiternden Kreon Alfred Döblins erkennen, und sei es allein deshalb, weil er dessen Fehler (noch) nicht gemacht hat. In Döblins Roman November 1918 ist Dr. Becker Lehrer für alte Sprachen an einem Gymnasium. Er ist aus dem Krieg zurückgekehrt, schwer verwundet, Träger des Eisernen Kreuzes, und findet eine reaktionäre Klasse vor sich, die bis auf einen Schüler auf der Seite Kreons steht. Ihr Lehrer ist anderer Meinung. Für ihn ist Antigone mutig, aber sie ist »keine Rebellin. Sie ist überhaupt das Gegenteil einer Revolutionärin. Wenn einer im Stück Umstürzler ist, so ist es – wundern Sie sich nicht – Kreon, der König. Sie haben es noch nicht bemerkt? Ja, er in seinem in der Tat tyrannischen Willen, in seinem Stolz, Sieger und endlich König zu sein, er glaubt, sich über geheiligte Traditionen, über uralte Selbstverständlichkeiten hinwegsetzen zu können«. Der Staat sei zwar eine Realität, aber der Tod sei dies nicht minder. Kreons Haltung gegenüber dem existentiellen Gewicht des Todes sei in krasser Weise unangemessen und werde die Katastrophe sowohl für ihn als auch für die Polis nach sich ziehen.
    Priester, König, Rebell, Staatsmann, Anarchist, Feigling, Politiker. Aber die Frage bleibt. Wie soll die Welt der Lebenden sich gegenüber der Welt der Toten verhalten? Was soll Kreon tun, für welchen Kreon soll der spanische Staat sich entscheiden? Einstweilen hat er sich für eine neue Variante entschieden: Er gibt die Leiche des Polyneikes für das Ehrenbegräbnis frei und riskiertdamit, daß das Rechtsempfinden der Opfer verletzt wird. Auch sie haben Tote zu beklagen und können sich auf Gesetze berufen, die von älterer Herkunft sind als die des Staates. Aber vielleicht wollen auch die Hinterbliebenen der Opfer nicht an das Reich des Todes rühren. Niemandsland, wer wagt es, sich dort aufzuhalten? Die Alternative wäre gewesen, die Leichen zu beschlagnahmen und an einem geheimen Ort zu verbrennen oder in der Erde zu verscharren und damit in die nächsttiefere Schicht der Verbitterung vorzustoßen.
    Hegel kann González nicht helfen, das ist nicht seine Aufgabe. Er ist der Geist der Geschichte und kann nicht Partei sein. Wie ein mystischer Adler schwebt er irgendwo hoch oben und betrachtet das menschliche Natterngezücht von seiner absoluten Höhe herab und sieht die gegenseitige Vernichtung, »das unvollendete Werk, das unaufhaltsam zum Gleichgewichte beider fortschreitet«. Karger Trost des Dichters! Bis dahin müssen wir töten und begraben und warten, bis diese glänzende Abstraktion, der Weltgeist, sich selbst im Spiegel sieht und erkennt.
    Ich blicke noch einmal auf das Foto. Die Frau im geblümten Kleid könnte geradewegs aus C & A kommen, ihre Faust ist schließlich nicht richtig geballt. Wenn sie allein auf dem Foto gewesen wäre, hätte es wie Winken ausgesehen. Auf Plätzen stehen immer solche Frauen herum. Sie winken der einen oder anderen Antigone und sehen nicht aus wie Staatsfeinde. Sie sind das Rätsel, das Kreon lösen muß.
    1987

L EÓN
    León, ganz früh am Morgen. Über dem Río Bernesga liegt leichter Nebel, zerrissene Schleier über dem stillen, bräunlichen Wasser. Ich habe das Auto auf der Brücke abgestellt, denn das erste Sonnenlicht bewirkt etwas Seltsames an der Fassade des Hostal de

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