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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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lang aus dem Buch in ihrer Hand vorzulesen, das sie nicht umblättern können.
    Ich bin nie mit leichtem Gepäck gereist, immer schleppe ich Bücher mit mir herum, und mit der Zeit werden es immer mehr. Kuriosen Büchern kann ich nicht widerstehen. In León erstand ich auf einem Straßenmarkt ein kleines Buch, Valle del Silencio , Tal der Stille, von David Gustavo Lopez, erschienen in einem dort ansässigen Verlag. Ich suche den Zufall, und er findet mich immer. In dem Gebiet, das ich durchstreife (und das ich ohne dieses Buch blind durchstreift hätte), muß ein Tal von außerordentlicher Schönheit liegen, mit einer schwer befahrbaren Straße, die in ein »mittelalterliches« Dorf führt, in dem eine unversehrte mozarabische Kirche aus dem frühen zehnten Jahrhundert steht. Im grünen Michelin von Spanien ist nichts darüber zu finden, die Michelin-Karte verzeichnet die Straße nicht einmal, auf einer anderen Landkarte entdecke ich eine dünne Kritzellinie und an deren Ende den Ortsnamen, Santiago de Peñalba. Dort muß dieser Weg oder was es auch sein mag, aufhören, der kleine Ort liegt in einem Rund, auf das verschiedene Sierras zeigen, die Sierra del Teleno, die Sierra de la Cabrera Baja, die Sierra del Eje, der Gipfel des Guiana. Der Verfasser meines deutschen Reisebuchs Spaniens Norden , Helmut Domke (München 1981), hat den Weg per Maulesel zurückgelegt, was dem Autor von Iglesias Mozárabes Leonesas zufolge jedoch nicht mehr nötig ist, es gebe einen Weg, wenn auch einen schwierigen und nicht bis ganz ans Ende.Die Lösung bringt L’Art Mozarabe , aus der Reihe Zodiaque: Ich muß südlich von Ponferrada acht Kilometer weit der Landstraße nach San Estebán de Valdueza, dann vierzehn Kilometer weit dem Fluß folgen. Dabei sei äußerste Vorsicht geboten, denn der Weg sei étroit und difficile und häufig durch herabgefallene pierres blockiert. Wenn ich nach San Pedro de Montes wolle, müsse ich die letzten fünfhundert Meter zu Fuß und kletternd zurücklegen, wolle ich nach Santiago de Peñalba (vom weißen Gipfel), so müsse ich das Auto außerhalb des Dorfes stehenlassen, da ich sonst steckenbliebe.
    Große Schönheit will nicht beschrieben werden. Und doch müßte ich es eigentlich können. Die ganze Sippe war da: Bussarde, Falken, Eidechsen, Schmetterlinge, Hummeln, Grillen. Und die Felswände, die Schluchten, die Kastanienbäume, die Heideflächen, der Río Oca, der irgendwo in der Tiefe und dann plötzlich wieder neben dem Weg fließt. Ein paar Dörfer, noch am Wasser, alte Frauen in Schwarz, niedrige Häuser mit Holzbalkons, Vieh auf den schmalen ungepflasterten Straßen. Alle Reisebücher sind sich darin einig, hier ist die Zeit stehengeblieben, aber davon kann keine Rede sein, alles ist hier stehengeblieben außer der Zeit, das ist es, was es so wunderlich macht. Die Zeit muß fließen, das ist ihr Schicksal, und am besten kümmert man sich gar nicht darum. Tempo bedeutet auch Zeit, und dort, wo zwei Tempi sich nicht decken, das Tempo der Natur und das der Menschen, geschehen wunderliche Dinge. Das Mißverständnis liegt in der Sinnestäuschung: Der Reisende sieht Dinge, die er von alten Stichen kennt, Dinge, von denen er weiß, daß sie früher so aussahen. Ein Mann mit einem Holzpflug, ein Mann mit einem Dreschflegel, eine Frau mit einer Sichel. Die Unbeweglichkeit dieser Bilder oder alter Fotos erweckt eine Vorstellung von Stillstand, die sich durch eine halbe Stunde Mitdreschen für immer austreiben läßt. Die kargen Felder zwischen den Bergen verlangen nach keinen anderen Methoden als denen, die früher gebräuchlich waren, wer hier einen Mähdrescher einsetzt, ist verrückt.
    Was bleibt, ist die Vision. Diese Landschaft hängt wie eine Wiegeam Himmel, wer hier nichts zu suchen hat, bleibt weg. Es gibt keine Gasthöfe, keine Hotels, zwei Autos kommen nicht aneinander vorbei, nur einmal in der Woche geht ein Bus nach Santiago de Peñalba, im vergangenen Jahr wurden ganze achttausend Besucher gezählt, und für sie und für mich sind der Klee und der Mohn, der gleitende, spähende Flug der Raubvögel, das Concerto grosso der Frösche und Grillen, die Streichquartette der Hummeln, Bienen, Schmeißfliegen und Mücken, die Schatten und der Sonnenstich, der Gedanke, das Auge, die Stille.
    Ich lasse das Auto stehen, wo es nicht mehr weiter mag, und steige nach San Pedro de Montes hinauf. Santiago hebe ich mir für später auf. Schritt, sagt mein Schritt, und während ich mich selbst nach oben

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