Der Umweg nach Santiago
Kreons und Antigonen. Legalisten, Staatsgläubige, Anarchisten, alte und neue Christen, Hegel, Kierkegaard, Brecht, Espriu, Anouilh, Hölderlin, Honegger, Gide, Maurras, Heidegger, sie alle haben aus diesem kaum mehr als dreißig Seiten langen Text aus dem fünften Jahrhundert vor Christus ihre eigenen Schlüsse gezogen, und diese Schlüsse wandeln sich mit den Zeiten und Geistern.
Die Geschichte: Die Söhne des Oidipus (die dieser mit seiner eigenen Mutter Iokaste zeugte), Eteokles und Polyneikes, haben ihren blinden Vater (der sich die Augen ausstach, als er entdeckte, daß er seinen eigenen Vater ermordet und seine Mutter zur Frau genommen hatte) aus Theben verjagt. Daraufhin verflucht Oidipus seine Söhne, die beschlossen haben, die Stadt gemeinsam zu regieren. Sie bekommen Streit, Polyneikes sucht Hilfe von außen und greift seine eigene Stadt an. Im Kampf töten die Brüdersich gegenseitig. Ihr Onkel Kreon, der Bruder von Iokaste, die Selbstmord verübt hat, wird König von Theben. Weil Polyneikes es war, der die Stadt angegriffen hat, verbietet Kreon, seine Leiche zu bestatten. Polyneikes ist ein Landesverräter, sein Leichnam soll liegenbleiben und von Hunden und Geiern gefressen werden. Kreon verkörpert den Staat, sein Befehl ist Gesetz. Dem stellt Antigone, die Tochter des Oidipus, die ihrem Vater auch schon während dessen Verbannung nach Kolonos beigestanden hatte, ein anderes Gesetz gegenüber, das der Religion und der »Natur«, das besagt, daß man den Toten die letzte Ehre erweisen und ihnen eine Ruhestätte unter der Erde geben muß, weil sie sonst bis in alle Ewigkeit umherirren und niemals Ruhe finden. Kreon hat für die Übertretung seines Verbots die Todesstrafe angedroht, Antigone hat angekündigt, daß sie das Verbot mißachten wird. Beide sind in ihren Positionen gefangen, beide werden daran zugrunde gehen.
Ist es nun unsinnig, dies alles im Zusammenhang mit der ETA in Erinnerung zu rufen? Auf den ersten Blick ja, denn der spanische Staat scheint beschlossen zu haben, Kreon die Züge von Pilatus zu geben, er sieht weg und wäscht seine Hände in Unschuld. Oder doch nicht? Es ist schwer, einem Staat hinter die Stirn zu schauen. Womöglich ist es purer Säkularismus, der sich über die religiösen Aspekte der ETA -Begräbnisse hinwegsetzt. Wir befinden uns schließlich im zwanzigsten Jahrhundert. Oder, noch kühler, machiavellistischer: Diese Etarras sind schließlich tot, Leichen können nichts mehr anrichten. So simpel könnte es für einen Staat sein, nicht jedoch für die Bürger. Die ETA tränkt diese Begräbnisse nicht umsonst in diesem antiken Zeremoniell. Sie sind auch als Provokation gedacht. Auch diejenigen, die einmal entführt worden sind, auch die Geschäftsleute, von denen die ETA regelmäßig Gelder eintreibt, auch die Angehörigen von Ermordeten oder Geiseln, die Eltern, Frauen und Kinder von Opfern sehen diese Rituale.
Ich kann den Geist Hegels nicht beschwören, um zu schauen, ob seine Rezeptur noch stimmt: Er nannte Kreon eine »sittlicheMacht« und Sophokles’ Drama das absolute »Exemplum« dessen, was Tragödie ist: die gegenseitige Vernichtung treibender Kräfte, Folge einer unvermeidlichen dialektischen Kollision zwischen den beiden höchsten moralischen Imperativen, dem Staat einerseits und der »Familie« andererseits. Wie eine Familie sahen die Beerdigungsteilnehmer auf dem Foto ja aus. Familie als Ansammlung von Individuen, die einander ausgesucht haben. Hat das Individuum das Recht, dem Gesetz und dem Recht des Staates zuwiderhandelnd seinem eigenen Gewissen zu folgen, wenn es sich dabei – sei es im Namen einer Gruppe oder für sich – auf ein »Naturgesetz« beruft, das es über die Gesetze des Staates stellt?
In der Studie, die George Steiner über Antigone verfaßt hat, einem frappierenden Katalog unterschiedlicher Denkweisen, die ein und dasselbe Thema zum Ausgangspunkt haben ( Die Antigonen , München 1988), wird das Dilemma hundertmal schärfer ausgeleuchtet, als ich es hier tun kann. Die letzte Antigone, die ich – auch schon wieder vor Jahren – sah, war die von Anouilh. Hans Croiset spielte den Kreon, und ich erinnere mich daran, daß ich mich ganz mit der glänzenden Antigone von José Ruiter identifizierte. Doch sie ist eine »andere« Antigone als die des Sophokles, und sie sieht sich einem subtilen, »politischen« Kreon gegenüber, der sogar die Zensur der deutschen Besatzer (die Premiere fand 1942 statt) passierte. Auch für Hegel ist Kreon
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