Der Umweg nach Santiago
Prozent davon in der Hand von Bistümern, Domkapiteln und Stadtadel, der Rest ist Großgrundbesitz und gehört einigen wenigen. Die Wappen der wenigen ist das, was man in Cáceres an den Mauern sieht.
Die Familien sind zum Teil ausgestorben, zum Teil auch nicht. Das System ist im Prinzip das gleiche geblieben, daran hat der (letztendlich verlorene) Bürgerkrieg nichts ändern können. Diese Häuser tragen Namen, aber diese Namen benötigten Namenlose, ein Name wird ein NAME , indem er sich von Namenlosen nährt, im eigenen Land von Tagelöhnern, Saisonarbeitern, Kleinpächtern, auf der anderen Seite des Ozeans von den Zinn-, Silber-, Goldgräbern, der namenlosen, bedeutungslosen Unterseite eines Imperiums.
Hat man in Amsterdam das gleiche Gefühl, bei den mächtigen Häusern der Sklavenhändler, von denen einige noch mit Mohren und Indianern verziert sind? Nein, natürlich nicht. Und doch ist, irgendwann einmal, ein greif bares Leiden mit diesen Namen und Häusern verbunden gewesen, das man, auf die Gefahr der Fälschung hin, nicht mehr in einem demagogischen Argumentfassen kann, das aber, auf die Gefahr einer anderen Art von Fälschung hin, als Tatsache nicht wegzudenken ist.
Vergessen, vorbei, namenloses Leiden, das hier, wo ich jetzt bin, in einem nun gerade nicht namenlosen Stolz, einer Herausforderung, Bestätigung, bewahrt wurde. Das Haus der Ulloa, der Ovando-Perero, der Torreorgaz, der Durán de la Rocha, de los Pereros, de los Toledo-Moctezuma. Casa-palacio heißen diese Häuser, ich schreite die versteinerten Wehrbauten ab, die schweren Linien, die geschlossenen Mauern, die Macht. Tore mit gewaltigen gewölbten Flächen aus großen, unverzierten Bogensteinen, wodurch das Tor selbst in den Mittelpunkt rückt, schwer, beschlagen, das, was einem den Zugang verwehrt. An einigen, wie etwa beim Palacio de Mayoralgo, ist bis in Übermannshöhe kein einziges Fenster, die Fassade ganz und gar Mauer, abwehrend orangefarben in der Sonnenglut. Erst hoch darüber zwei Zwillingsfenster, die das Wappen flankieren: Dies sind wir. Und wenn wir nicht mehr sind: Dies waren wir. Manchmal sind die Wappen so an einer Hausecke angebracht, daß sie nach zwei Seiten zeigen, manchmal stehen provozierende Sprüche dabei wie: AQUI ESPERAN LOS GOLFINES EL DIA DEL JUICIO , hier erwarten die Golfines den Tag des Jüngsten Gerichts.
Eine andere Familie hat die Sonne als Emblem gewählt, ein rundes Gesicht mit ausfächernden Strahlen, das den Fremden spöttisch anschaut. Im Haus der Golfines wurde Franco zum Staatschef ausgerufen, und auch das paßt ins Bild. In diesen schmalen Straßen und Gassen herrscht eine düstere, obskurantistische Atmosphäre, man hat das Gefühl, zwischen Mausoleen zu gehen, als säßen hinter diesen Türen komplette ausgestorbene Familien und warteten auf den Engel mit der Posaune. Wenn er dereinst kommt, muß es zu dieser Mittagszeit sein, einer Zeit der Stille und des grausamen Lichts, ein Mittag, an dem diese Wappen mit ihren Symbolen und Fabeltieren zu Asche werden, zu unlesbarem Pulver.
Bin ich der einzige, der es hört? Aus der Ferne kommt es, ein formloses Heulen, Unheilgesumm. Als ich mich nähere, höre ichkeine Worte, sondern miteinander verbundene plumpe Wortlarven, Klänge, die Worten gleichen, deren Anfang und Ende sich abgeschliffen haben, blessierte, verunstaltete Wörter, die richtige Wörter sein wollen, es aber nicht sein können, weil sie aneinanderkleben, ineinanderhängen und -haken, ein großer, unartikulierter, klagender Wortbrei.
Ich biege in eine Gasse ein und sehe ihn, den einzigen anderen, einen debilen Jungen an einer Mauer, versunken in seine Klage an das Universum, ein sprechender Hund, der heulen will, aber durch das, was noch an Sprache in seinen Lauten steckt, daran gehindert wird, so daß eine Mischform entsteht, Tierlaute, die aus einem menschlichen Mund kommen, wobei er mich anblickt und doch nicht sieht. Ich bin für seine Klage nicht wichtig, bin so durchsichtig wie Luft, sein Heulen richtet sich gegen die Instanz des Lebens selbst, weil sie nicht hören kann.
Man muß suchen, doch dann findet man sie, in allen Provinzhauptstädten Spaniens, kleine, schummrige Buchläden, Schatzkammern mit Raritäten, die die Grenze der jeweiligen Stadt oder Provinz meist nicht überschreiten, durchweg Lokalausgaben unbekannter Autoren, vollgestopft mit Angaben, die man woanders nicht so schnell finden würde, die Ortsgeschichte, Gedichtbände aus dieser Gegend, die sich anderswo nicht
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