Der Umweg nach Santiago
Brief des siebenten Bandes seiner Reise durch Spanien ( Viage de España , Tomo septimo, Madrid 1784) wesentlich wissenschaftlicher. Er enthüllt haarklein, wie Maestro Rodrigo sich selbst zum Flugzeug umbaute. Es fing damit an, daß dieser jeden Tag Huhn und anderes Geflügel bestellte. Die Tiere brauchten nicht gerupft zu werden, das tue er schon selber, schließlich habe er genug Zeit in seinem Turmzimmer. Viel aß er nicht davon, denn er wollte abnehmen. Er wog die gerupftenHühner und wog ihre Federn und kam zu dem Schluß, man benötige für je zwei Pfund ( libras ) Fleisch vier Unzen ( onzas ) Federn, um sich in der Luft zu halten, und auf diese Weise sammelte er so lange Federn, bis er genug hatte, um sein Gewicht durch die Luft befördern zu können. Als es soweit war, schmierte er sich mit einer klebrigen Substanz ein, befestigte so die Federn an Füßen, Beinen, Armen, »ja, am ganzen Körper«, befestigte die beiden Flügel, die er geflochten hatte, an seinen Schultern und sprang vom Turm »und flog bis weit vor die Tore der Stadt, bis zur anderen Seite des Flusses Jerte, wo man ihn tot auffand«.
Es ist still unter meiner Steineiche, und wenngleich ich es selbst bin, der auf der harten, trockenen Erde liegt, fühlt es sich doch anders an, als läge diese ausgedörrte Landmasse mit ihren geschliffenen, gelb gewordenen Gräsern und den messerscharfen Disteln auf mir, als bewahre nur der Schattenkreis dieser harten, dunklen Eichenblätter mich vor weiterem Unheil. Ich lese die estremadurischen Geschichten von fliegenden Bildhauern und brennenden Eiferern, und natürlich muß ich lachen, aber hinter alldem verbirgt sich eine andere Art von Absolutismus, die genauso zur Landschaft zu gehören scheint, der Absolutismus des Hungers (Rezepte für Eidechsen, für Suppe aus altem Brot, für getrocknete und gesalzene Fische) und seine Begleiterscheinungen: Aberglaube, Fremdenhaß. Kochbücher ( Recetario de la Cocina Extremeña ) haben viel zu erzählen, die Armut einer Gegend läßt sich aus ihnen herauslesen.
Nirgends sind mehr Stockfischrezepte zu finden als in dieser Gegend, und nirgendwo war der Haß gegen Juden und moriscos größer. Je ärmer, ausgebeuteter und rückständiger eine Bevölkerung ist, desto leichter ist es, einen teuflischen Schuldigen zu finden, der die Ausbeuter freispricht. »Nirgendwo in Estremadura«, sagt Victor Chamorro in seinem Buch Extremadura, afán de miseria (Estremadura, die Sucht nach dem Elend), »findet man ein Dorf, in dem es keine Geschichte oder Legende gibt, in der ein Zusammenhang zwischen Juden und dem Tod von Kindern,Sakrilegien, Vergiftungen, Kirchenverspottung hergestellt wird.« Chamorro, der auch eine vierbändige Historia de Extremadura geschrieben hat (Madrid 1981), führt Geschichten von Verfolgungen, Folterungen, Konfiskationen von Geld und Gütern an, aber auch Sprichwörter und Texte, meist anonyme, manchmal jedoch auch aus einer Ecke, aus der ich sie, vielleicht naiverweise, nicht erwartet hätte.
So zitiert er Calderón de la Barca, dessen Stück Das Leben ein Traum ich vor kurzem noch in Madrid sah, gibt allerdings nicht an, woher das Zitat stammt, so daß ich nicht weiß, ob Calderón selbst hier spricht oder ob eine seiner Figuren es rollengemäß sagt und es folglich gerade nicht die Meinung des Autors wiedergibt.
Jedenfalls läßt das Zitat an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig:
Qué maldita canalla!
muchos murieron quemados,
y tanto gusto me daba
verlos arder, que decía,
atizándoles la llama:
›Perros herejes, ministro
soy de la Inquisición Santa‹.
Der peitschende Reim macht es schlimmer, als eine Stegreifübersetzung es wiederzugeben vermag:
»Welch verfluchte Kanaille! / Viele starben auf dem Scheiterhaufen, / und soviel Freude bereitete es mir, / sie brennen zu sehen, daß ich sagte, / als die Flammen sie erreichten, / Ketzerhunde, Diener / bin ich der Heiligen Inquisition.«
Angenommen, die Geschichte könnte sich entgegen den Gesetzen des natürlichen Zeitablaufs ihrer eigenen späteren Ereignisse bewußt sein, so wäre sie keine Geschichte mehr, sondern ein Mittelding zwischen Schizophrenie und Ironie und würde folglich nicht mehr als sie selbst existieren. Doch dann ist auch ironische Geschichtsschreibung eine Leugnung und Fälschung des Geschehenen. Gerade die im nachhinein so ironischen, bitteren,aus späterer Sicht lächerlichen Momente beziehen ihre Kraft aus der Tatsache, daß sie, als sie sich ereigneten, so
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