Der Umweg nach Santiago
ich jetzt in einer anderen Welt bin, näher an Afrika als an meinem eigenen hygienischen oder scheinheiligen Norden, wo die Schädel aus den Schlachtereien verschwunden sind, weil dort verborgen wird, wie die Dinge wirklich sind, maskiert werden. Der Tod ist im Norden ein anderer und hat unsichtbar zu bleiben, verborgen wie der Kummer oder unterdrückt wie Trauer.
In dem Land des gnadenlosen Lichts verhält es sich anders. Oder, besser gesagt, verhielt es sich anders. Der junge Mann, der ich war, ist hinten in der Kneipe zum comedor gegangen und hat sich zu ein paar Männern an den Tisch gesetzt. Sie sind arm, das kann er sehen, aber sie wollen ihre Mahlzeit mit dem Fremdenteilen, sie schieben ihm den Korb mit dem Brot, den Tonkrug mit dem tiefroten, herben Wein zu – Korb, Krug, die Form des Brotes, ihre Gesichter, die Worte, mit denen sie das Essen anbieten, uralte Formeln der Gastlichkeit, der Er, der ich war, hat das Gefühl, in einer altertümlichen Welt gelandet zu sein. Fragen werden gestellt nach dem Woher und Wohin, die ewigen Fragen an den Reisenden, und in den Tagen jener noch fernsehlosen Zeit ist sein Herkunftsland ein Land aus einer Legende, kalt muß es dort sein, es gibt viele Mühlen und es liegt unter dem Meeresspiegel, ein Rätsel.
Ich bekomme einen Kaffee und ein Glas Anisette, was mich später, als ich mit einem der Männer ins Freie trete, im plötzlichen Licht torkeln läßt. Die Landschaft ist hier eben und flach wie in meinem eigenen Land, in diesem flimmernden Licht sieht man Menschen schon aus unendlicher Ferne näher kommen, Männer in Planwagen, Frauen mit einem Eimer oder Krug auf dem Kopf, Jungen auf einem Esel, Erscheinungen in einer absolutistischen Landschaft, in der sich niemand verbergen kann.
Der Mann, der mich mitnimmt, ist Lkw-Fahrer, heute noch erinnere ich mich an den Geruch des Dieselöls, die schwarze Wolke, die wir hinter uns lassen. Dann bricht die Erinnerung ab, ich sehe nur noch ein Haus, in dem ich schlafen darf, eine verlegene Frau und Kinder mit großen Augen und dann, später, als sich der Abendhimmel purpurn färbt, das diffuse Licht über dem Guadalquivir. Ich sitze mit meinem neuen Freund am Ufer. Er macht Jagd auf kleine Flußkrebse (die gab es damals also noch) und zeigt mir, wie man sie schmerzlos tötet, indem er am Schwanz irgend etwas aus ihren Körpern zieht, das aussieht wie ein violetter Faden.
Schafsköpfe und Flußkrebse, ist das Andalusien? Nein, natürlich nicht, aber es ist der geheimnisvolle Weg der Erinnerung, die einem etwas verdeutlichen will, die sich irgendwo in der Zeit an dem Augenblick festgehakt hat, in dem sich dir eine Tür zu einem Landstrich öffnete, der nicht nur räumlich fern von dir lag, sondern auch zeitlich.
Danach sollte all das andere kommen, die späteren Reisen, der Glanz, die orientalische Pracht, die Mäander der Geschichte, die bewahrte und vergangene Größe, die Gedichte und die Landschaften, der Ehrfurchtsschauer der Prozessionen und die Wut der Demonstrationen, die brennende Askese Zurbaráns, die nächtlichen Stimmen auf einem Patio, der Sprung, den eine andere Kultur über das trennende Meer gemacht hatte, über das sie später wieder zurückgejagt werden sollte, die Spuren, die diese Fremden hinterlassen sollten und was sich in diesen Spuren, sofern sie nicht gelöscht oder zerstört würden, von einer Zeit erhalten sollte, in der zwei Kontinente, zwei Kulturen, zwei Sprachen, zwei Religionen einander kurzfristig lang, lang kurzfristig – das hängt von dem Maß ab, mit dem man die Geschichte mißt – umarmt hatten. Und neben diesen beiden, den Christen und Muslimen, sollten die Chroniken einen nie die anderen, früheren oder Zeitgenossen, die Kelten, Iberer, Juden, Westgoten vergessen lassen, die alle ihre Zeichen in Wörter und Gesichter geschrieben hatten, in der Geschichte mit Namen und in der namenlosen Geschichte.
Der heutige Reisende bewegt sich zwischen den Nachkommen der Überlebenden und Vertriebenen, inmitten all dessen, was für immer verschwunden ist, in der Erinnerung und in den Chroniken jedoch weiterlebt, und dem, was trotz alledem erhalten geblieben ist, sephardischen Gedichten und arabischen Wendungen im cante hondo , Kalligraphien heiliger Texte, die er nicht mehr lesen kann, maurischen Bauwerken, in denen früher in einer anderen Sprache gebetet wurde als heute. Er begegnet der verschwundenen und nicht verschwundenen Vergangenheit in Fayencetableaus und Palästen, in Melodien, im
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