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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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nicht größer, wir hingegen scheinen ein bißchen größer, unter den großen Metallampen und den Kreuzbögen, in den Räumen mit der Raubvogelaussicht; während wir unsere flüchtigen Körper an den glänzenden Rüstungen entlangbewegen, in denen einst echte Menschen andere echte Menschen totgeschlagen haben, können wir uns für einen Moment einbilden, daß wir der heiligen Gleichheit entronnen sind, daß wir nicht länger dazu verurteilt sind, für alle Zeiten unseres Bruders Hüter sein zu müssen, sondern daß wir ihn zur Abwechslung auch einmal vom Kopf bis zu den Füßen mit diesem Schwert spalten dürfen, das dort über dem Granitkamin mit unserem Familienwappen hängt und fast so groß ist wie wir selbst. Von unten, aus den armseligen Häusern, dringt Hahnengeschrei, ein Kreis elender Hunde wird uns mit ihrem Gebell die ganze Nacht nicht schlafen lassen, aber erst der Bikini unserer Nachbarin am Swimmingpool wird uns aus dem Traum heraushelfen: Den haben wir auf mittelalterlichen Gemäldennie gesehen, genausowenig wie den verräterischen Fernseher in unserem so kühlen Zimmer.
    Spanien ist natürlich nicht das einzige Land, in dem Relikte aus jener Zeit des unentwegten Kämpfens erhalten geblieben sind, aber durch das Klima sind sie hier besser erhalten geblieben. Die Trockenheit hat nicht nur die Skelette selbst bewahrt, sondern auch meist dafür gesorgt, daß Efeu und andere Pflanzen die Mauern nicht überwucherten wie in anderen, angenehmeren und feuchteren Klimazonen, und noch immer sind die Orte, an denen die Burgen stehen, häufig nicht reizvoll genug, um Wohnungen um sie herum zu bauen. José Zorilla hat ein schönes Gedicht darüber geschrieben:
    Ein trauriger Rest von herrlicher Pracht,
    ohne Teppiche, Wandschmuck oder Waffen,
    Herbergen sind verstummte Mauern,
    jetzt nur noch Schweigen, Verlassenheit, Schemen.
    Vielleicht könnte sein geschichtsloser Name
    noch allerlei Sagen erzählen,
    doch es wächst nur noch strohgelbes Gras
    aus Gewölben, Türmen und Säulen.
    Unter den Dächern wohnen die Vögel
    und webt die fleißige Spinne ihr Netz ...
    So steht er jetzt da, grob und voll Wut,
    der alte Turm von Fuensaldaña ...
    Fuensaldaña, Calahorra, Vélez Blanco ... Spanien besitzt noch 2538 Burgen, Gemäuer, Ruinen, Festungsmauern, Türme. Ein großer Teil davon versinkt langsam in der Landschaft, und es fragt sich, ob das schlimm ist. Ich steige gern in den Paradores ab, doch gleichzeitig haben all diese restaurierten Ruinen etwas Unwirkliches, und sei es allein deshalb, weil es wieder etliche Jahrhunderte dauern wird, bis das Gebäude erneut verfallen genug aussieht – aber auch das ist eine bedenkliche Regung, weil sie Hitlers »Ruinenwert« verdächtig nahe kommt. Für den großenösterreichischen Baumeister war das ein unverzichtbares Element in der Baukunst: Er trug Speer auf, so zu bauen, daß das, was dort entstand, auch nach tausend Jahren noch als Ruine schön wäre. In Spanien ist das auch ohne vorherige Intentionen gelungen. Bei Speer natürlich nicht. Wer Intentionen in bezug auf die Geschichte hat, wird sich stets verrechnen.
    Mittag, flimmernder Asphalt, eine lächerliche, einsame Pinie wie ein Regenschirm über dem eigenen Schatten. Im Autoradio die Tenebrae von Gesualdo, Schnee auf der Sierra Nevada, Hügel mit gefältelten Füßen, Felder voller kalkfarbener Steine. Huéscar, Castril, hoch über dem Dorf eine Heiligenfigur, man sieht die alljährliche Prozession vor sich. Ich kühle mir die Hände in einem Flüßchen und höre einen Vater rufen: »Laura, Laurita, vamos a comer« , »komm zum Essen!«, und dann will ich Laura, Laurita sein und ebenso achtjährig wie das Mädchen, das jetzt angelaufen kommt, und ich will in das kühle Haus gehen und mich an den Tisch setzen und die heißen Stunden des Nachmittags in einem Theater sich ineinanderschiebender Träume verschlafen, aber ich darf nicht schlafen, und ich darf nicht träumen, ich drehe meine ewigen Runden in der sich ständig ändernden Landschaft, Tiscar, Quesada, Oliven, Oliven, Oliven, Kurven und Kurven, bis die Frau mit der Hacke auf der Schulter, die ich gerade noch unten sah, jetzt vor mir auf der Straße steht; wie eine Ziege ist sie den Hang hinaufgeklettert und hat so die lange Kurve abgeschnitten, und jetzt will sie mit und sitzt schweigend neben mir, das Gesicht hart und braun, scharfe Augen auf die Straße gerichtet, die Hacke noch immer auf der Schulter, einen Korb mit zugeknüpftem Tuch und einen Tonkrug

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