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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Anstalt, die Leute müssen daran gewöhnt sein, denn sie gehen vorbei, ohne aufzuschauen, nur ich bleibestehen und schaue zu ihm und zu den anderen rings um ihn, die aus einer Welt zurückschauen, in der meine ungültig ist. Aber wie ungültig? Denn auch für mich gehört dieses Brüllen nun zu der Welt, als ich am Ende der Straße angelangt bin, höre ich es noch immer, aber dort teilt es sich dann auch der Landschaft unter mir mit, Olivenbäume, die vom Horizont in endloser Schlachtordnung gegen die Stadt vorrücken. Sie kreischen nicht wie die Vögel von Hitchcock, aber die Farben dieser Landschaft, der Loma de Úbeda, glühen bis zum Himmel, wenn man lange schaut, kommen sie den Hügel hinauf, und das Schreien gehört dazu.
    Um für einen Tag dieser Landschaft zu entrinnen, war ich nach Úbeda gekommen, der Patio des Paradors war hoch und kühl, Palmen und Licht aus hohen Fenstern, ich hatte über die mittelalterlichen Familien gelesen, die hier und im zehn Kilometer entfernten Baeza versucht hatten, sich gegenseitig an die Gurgel zu gehen wie jene anderen Familien in Florenz und Verona, und wie sie dann wieder gemeinsam gegen die Comuneros vorgegangen waren, um diesen Volksaufstand mit Schwert und Galgen niederzuschlagen, wie nach dem Sieg über die Moslems 1227 und 1237 die Blütezeit für diese beiden ersten christlichen Städte Andalusiens begonnen hatte: Getreide, Olivenöl, Salz, Handel.
    Jetzt hieß Úbeda nicht mehr Ubbadat-al-Arab und Baeza nicht mehr Bayyasa, jetzt kämpften die Familien um Hegemonie und Geld, und zum neuen Geld gehörten neue Stile, und der allerneueste Stil gehörte zur reichsten aller Familien, und so holte Francisco de los Cobos, Sekretär Karls V ., Andrés de Vandelvira nach Úbeda, und dort liegen seine Paläste, ein klarer Gedanke um mich herum, Kühle, Distanz, Ruhe, ein klassisches Juwel, geschliffen im andalusischen Feuer, ein Reservat zwischen arabisch und barock, Verzierungssucht und Überfülle, einen Tag lang vor dem völlig anderen, Maß zwischen der Maßlosigkeit des ganzen Landes ringsum. Klein ist es, Úbeda, und klein Baeza, man braucht dort nichts zu tun, lesen, umherwandern, den Schatten suchen und zusehen, wie das Licht die Bilder fotografiert, schauen, betrachten. Baeza ist älter als Úbeda, andere Echos, andere Stille, als ich hinter der Kathedrale auf einem schmalen Pfad um den hohen Hügel wandere, stoße ich plötzlich auf eine Statue von Antonio Machado, und auch sie ist aus dem Stoff für Träume gemacht, denn der Kopf des Dichters ist ein Kopf ohne Körper, er ist aus Bronze, aber in Beton gefangen und auf einen niedrigen Schutthaufen gestellt, die Augen sind offen, aber er schaut über einen hinweg, Vögel haben seinen Kopf vollgeschissen, so daß er vom Scheitel aus weint, bittere schmutziggraue und -weiße Tränen aus Vogeldreck, ein ausgestopftes Dichterhaupt in einem Betonkäfig, ausgelaugt von der Hitze, wie ein Götzenbild über dem Land aufgestellt, über das er schrieb:
    »so traurig und arm, daß es deshalb eine Seele hat«:
    tierras pobres, tierras tristes,
    tan tristes que tienen alma!
    1992

A NDALUSIEN
    Meine erste Erinnerung an Andalusien ist ein Stilleben. Es gibt auch andere, sich bewegende Bilder, zu denen die Stimmen von Menschen gehören, andere Stimmen als die, die ich bis dahin vernommen hatte, andere Klänge, andere Melodien, und es gibt auch Bilder mit mehr – und manchmal gnadenlosem – Licht, doch es ist dieses erste, stille, düstere Bild, das alle anderen beiseite schiebt.
    Erinnerung ist eigensinnig, hierarchisch, hat ihre eigenen Machtverhältnisse, ihre eigenen Gesetze, ihre eigene Logik. Alle späteren Jahre und Erfahrungen, alle Reisen haben dieses erste, atavistische Bild nicht löschen können. 1954, ein Dorf in Andalusien, die heiße Stunde des Mittags. Ich bin per Anhalter aus Portugal gekommen, doch jetzt gibt es niemanden, der mich mitnimmt, in einer Bar an der Straße suche ich Schatten. Dort ist es dunkel, das wenige Licht hat einen gelblichen Glanz, auf der Theke aus düsterem Holz, das vom Alter fast schwarz geworden ist, steht eine Tonschale aus glühendem, herbstlichem Rot. Sie ist mit gespaltenen Schafsköpfen gefüllt. Die Fleischfasern, die noch an den Schädeln hängen, sind bräunlich, die Augen glänzen nicht mehr, die Zähne ragen scharf und weiß aus den offenen Mäulern, ich sehe die Hirne, die kleinen gespaltenen Zungen.
    Ich finde den Anblick nicht gräßlich oder beängstigend, ich weiß nur, daß

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