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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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zwischen den Füßen, für ihren Mann sei das, er ist schon den ganzen Tag da oben, sie bringt ihm immer zu essen, wenn sie unten fertig ist, und nachts bleibt er da, dann geht sie wieder zurück, es sind mehr als fünf Kilometer, wenn sie auf der Straße geht, aber manchmal klettert sie in direkter Linie nach oben, dann ist sie schneller, und als sie aussteigt, sehe ich den Mann in der Ferne stehen, gegen die Sonne sehe ich ihn, eine Zeichnung voll ausgelaufener Tinte, dieForm eines Mannes zwischen den Formen von Schafen, 1185 Meter hoch sind wir hier, zum erstenmal fühlt sich die Luft etwas kühler an.
    Die Träume der Siesta sind andere als die der Nacht, eine andere, falsche Nacht ist in ihnen verborgen, der Betrug des Erwachens in etwas, was kein Morgen ist, sondern ein trügerischer zweiter Beginn. Der Tag ist dann bereits mit Leben und Essen besudelt, mit den Worten einer Zeitung und der Welt, der Abend ist näher als die erste Stunde der Sonne, alles muß zum zweiten Mal geschehen, etwas vom Tod haftet ihm an, Schatten des späten Nachmittags, das Nahen der Dunkelheit. Ich erkenne das Zimmer, aber das Geräusch erkenne ich nicht. Er gehört noch zum Ende des Traums, der jetzt schon unbenennbar gewordenen Schwere des Schlafs. Geschrei war es, das Geschrei eines Menschen und doch keines Menschen, ein anhaltendes Brüllen, in dem keine Worte vorkommen, Klage ohne Struktur, Kummer ohne Definition, das durch den halb geöffneten Fensterladen ins Zimmer dringt. Negation ist es auch, dieses Geräusch, denn draußen, hinter dem Fensterladen, ist alles Struktur, Strenge, bezwungene Emotion, dieses Brüllen müßte von den Friesen und Simsen abprallen, von den Säulen und Sandsteinmauern, die jedes Übermaß scheuen, Renaissance-Kühle, aus den norditalienischen Herrscherstädten im sechzehnten Jahrhundert in die Glut des andalusischen Spaniens hinübergeweht. Denn dort befinde ich mich gerade, in Úbeda, in dem schlichten Palast, der Casa del Deán Ortega heißt und jetzt ein Parador ist, in den man ohne Adelsbrief hineinkommt.
    Das Licht, das durch den Laden hereinschlägt, ätzt ein gemeines Viereck auf mein Bett, ich lese die Worte noch einmal, die ich vor dem Einschlafen las und die aus einem Lied zu stammen scheinen
    »Étrange fut le destin de Plotin dans le monde arabe!«
    und dann stehe ich auf und stoße den Fensterladen weiter auf, und wieder passiert etwas Seltsames, denn während, oder vielleicht weil dieses Brüllen anhält, weiß ich mit einemmal wieder meinen Traum, etwas mit Löwen und Stieren, und dann weiß ich auch, wie dünn die Schicht zwischen Wirklichkeit und Traum in diesem Fall ist, denn erst an diesem Morgen habe ich etwas über ein Relief an einem der Pilaster vor der Fassade der Sacra Capilla del Salvador geschrieben, die neben dem Parador liegt, ein Mann, vielleicht Herakles, der mit zwei Stieren kämpft, und auch der Löwe ist nicht weit davon zu suchen, denn der steht, hoch und wachsam, vor dem Palacio de las Cadenas, das Wappen der Vázquez de Molina unter der linken Pranke. Wenn ich mich auf meinem Balkon weit nach links beuge, kann ich das graue Steinrelief wieder sehen, der nackte Mann steht, die Rückseite mir halb zugewandt, da, mit seinen starken Armen hält er die hitzigen Stierköpfe rechts und links an den Hörnern fest, die Stiere selbst bäumen sich auf, das Gesicht des Mannes mit dem kleinen griechischen Bart ist nach links gedreht, ich habe es an diesem Morgen lange betrachtet. Während das Brüllen noch immer anhält, geht mir durch den Kopf, wie merkwürdig es doch ist, daß wir in solchen Städten ständig von Fabeltieren umgeben sind und glauben, straflos zwischen ihnen umherlaufen zu können. Der Löwe auf dem Sockel, der Adler mit dem Eber im Wappen, das Einhorn in dem bunten Glasfenster, irgendwann suchen sie sich einen Traum, in dem sie sich bewegen können, näher kommen, locken, drohen, in dem der verwitterte Stein sich in eine glänzendbraune Haut verwandelt, der Adler seine Beute sucht, Löwe und Stier brüllen.
    Ich gehe hinaus, vorbei an den geschorenen Ligusterhecken, den wollüstigen weißen und roten Oleandern mit ihren giftigen Blättern, ich steuere auf das Brüllen zu und dann sehe ich ihn, einen ganzen Renaissance-Patio um ihn herumgebaut, einen einsamen, unbekümmerten Idioten, der, um seine eigene Achse sich drehend, wie ein erdgebundener Riesenschmetterling zwischen den Säulen taumelt und unentwegt schreit. Der Palast, in dem er lebt, ist eine

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