Der Umweg nach Santiago
alles Aktuelle, so laut es sich hier stets gebärdet, weniger Gültigkeit und gehe in einem unendlich langsameren Maß auf. Vielleicht sind es die Gegenden, die ich aufsuche, das wird es wohl sein. Denn das ist es, was ich will, Verlangsamung, und, gleich welches Gesetz hier regieren mag, ich finde, was ich suche. In einer Landschaft, in der ein einzelner Baum kilometerweit zu sehen ist, wird die Zeit anders gemessen. Und dieses Maß ist es, das mich nach Spanien lockt.
Nein, das alles habe ich mir nicht in dem schneidenden Winddraußen vor der Klosterpforte überlegt. Sonne im Klosterhof, Schutz, die Toten, die hier schon fast tausend Jahre liegen, wissen das besser als ich. Wenn ich stehenbleibe, ätzt das Licht meinen Schatten auf die Mauer zwischen die vielbogigen gotischen Bögen, wenn ich gehe, messen meine Schritte den Abstand zwischen Grab und Grab, zwischen Ramón d’Alemany und Guillem de Claramunt, beide während der Eroberung Mallorcas im Jahr 1230 gefallen. Durch die Stille höre ich eine spanische Frauenstimme, die von einem »englischen Bildhauer« erzählt, der sich hier niederließ, aber als die Hand, die zu dieser Stimme gehört, dann auf die Kapitelle im Kreuzgang zeigt, wird mir klar, daß sie nicht jetzt meint, sondern einst, damals, die Zeit des es war einmal, und aus dieser Zeit blicken die unversehrten Sandsteinfiguren uns an, der Löwe mit dem Sonnenkopf, die Bilder der Schöpfung, Eva aus Adams Rippe, der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies, Ungeheuer und Spötter und Kain, der Ackersmann, und Abel, der Hirte, das ewige Panoptikum, für das unsere Unwissenheit uns allmählich blind macht, die immer schnelleren Mutationen des Fortschritts haben den Gedanken hinter diesen Bildern entkräftet, bis nichts mehr davon übrigblieb als eine Fabel, die man kennt oder nicht kennt. Er ist nicht neu, dieser Gedanke, und doch muß er auf dieser Reise immer wieder von neuem gedacht werden. Das soll nicht als Pflichtübung in Heimweh verstanden werden, aber bei diesen Konfrontationen passiert nun einmal etwas, zwei Dinge prallen aufeinander, das endgültig Vergangene ist noch in Stein gegenwärtig, es hat allein schon durch sein Alter ein Übergewicht. Doch was ist etwas, wenn es seine Bedeutung verloren hat, wenn es nicht mehr bedeutet, was es bedeutet hat? Nur noch Kunst, zugänglich und unzugänglich zugleich? Oder gerade das, die Konfrontation, der Augenblick, in dem man den Gedanken seiner eigenen Spezies nicht mehr erkennt, was es als sicher erscheinen läßt, daß auch der eigene Gedanke eines Tages nicht mehr erkannt werden wird? Aber was habe ich dann auf all diesen Reisen gesucht? Vielleicht dies: den Schauer, der zu diesen Überlegungen gehört, den Teppich,der unter einem weggezogen wird, die verzweifelte Zweizeitigkeit von Menschen, die sich weiter in die Vergangenheit hineinwagen, als gut für sie ist, nicht, weil sie sie zurückhaben und eine ewige Gegenwart daraus machen wollen wie die Traditionalisten, nein, das gerade nicht, sondern weil sie, wie Ortega y Gasset sagt, »die Vergangenheit als Vergangenheit lieben, das, was abgeschlossen ist und doch nie abgeschlossen sein kann, weil es bis ins Heute hinein fortwirkt«.
Romanischer Bogen über gotischem Tor, so betrete ich die Kirche. »Bei Landschaften ist es genauso wie bei der Natur«, schrieb Unamuno, »Nacktheit ist das letzte, das man lieben lernt.« Leer ist es da drinnen, karg, hell, hohe schmucklose Mauern, die Art von Raum, in dem man selbst zum mathematischen Punkt wird, als würden in einem fort Linien aus der eigenen, sich bewegenden Anwesenheit zu den Flächen, Rechtecken, Lichtquellen ringsum gezogen. Erst im zwanzigsten Jahrhundert, bei Architekten wie Loos, kehrt diese funktionale Kargheit des Zisterzienserstils wieder, und auch wenn die Funktionen andere geworden sind, das Ideal ist das gleiche geblieben: Abkehr vom Nichtwesentlichen. Es läuft sich gut in dieser Kargheit, vor allem, weil niemand sonst zugegen ist. Aragonesische Könige liegen hier, Peter der Große (Pere el Gran) und Jakob der Gerechte ( Jaume el Just) mit seiner Gemahlin Blanche (Blanca) von Anjou, der große König aus dem dreizehnten Jahrhundert in seinem nie geschändeten Porphyrgrab, Eroberer Siziliens, vom Papst exkommuniziert, weil dieser lieber einen Valois in Sizilien gesehen hätte. Still ruhen sie hier, der Tanz der Dynastien ausgetanzt, Sizilien, Korsika, Sardinien, Mallorca gewonnen, verloren und wieder gewonnen, Könige über
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