Der Umweg nach Santiago
eine verlassene Küste. Keine Menschen, nur ein Fußballplatz, auf dem lediglich zwei Tore wachsen, aber kein Hälmchen Gras. Sand, nichts als Sand. Ein eingestürztes Fort, sehr gruselig, Piranesi sur Mer. Und zwei in sich zusammengesackte Häuser. Links und rechts bleierne Berge, und an der Stelle, an der sich bei schweren Regenfällenein Fluß ins Meer stürzt, ein paar gestorbene Autos, auf der Seite, die leblosen Mäuler weit aufgerissen. Ich empfinde angemessene Freude. Verfall muß schön sein, und hier ist ein Künstler am Werk gewesen, er hat nur vergessen, das Ganze zu signieren. Die Brandung nagt mit ihren Zähnen unsichtbare Basaltsplitter vom Fort, die falschgrüne Tapete in einem der Häuser hängt wie eine abgestreifte Haut von der Wand, jedesmal, wenn die Brandung sich zurückzieht, um beim nächsten Mal noch höher zu springen, macht das zurückströmende Wasser zwischen den runden schwarzen Kieseln ein saugendes, schmatzendes Geräusch, die leeren Fenster schlagen einen unbestimmbaren Rhythmus dazu, das Ende der Zeiten ist nahe.
1985
A NKUNFT
Riten der Einkehr. Ich merke, daß ich diese lächerlich altmodischen Worte vor mich hinmurmele. Manchmal sind die Worte noch vor dem Gedanken da, oder zumindest scheint es so. Und natürlich, alles tut sich zusammen, um diesen Gedanken heraufzubeschwören, der Ort, an dem ich mich gerade befinde, die Landschaft tief unter mir, das verlassene Zisterzienserkloster, auf das ich schaue, der eiskalte Februarwind, der an meinen Kleidern zerrt, der jahrhundertealte Eisenbeschlag an dem Tor, durch das ich gleich eintreten werde. Katalonien, Monasterio Santes Creus, zum soundsovielten Mal habe ich mich durch einen Namen, ein Wort vom vorgenommenen Weg abbringen lassen. Ich hatte doch vorgehabt, zum Kloster Veruela zu fahren, wo ich einst, vor gut zehn Jahren, den ersten all dieser Umwege begann? Nach Santiago wollte ich fahren, aber die Wege teilten sich wie die Stränge eines reißenden Taus, ein Jahr kam zum anderen, ich entfernte mich immer weiter von meinem Ziel, ließ mich immer tiefer in ein Spanien hineinziehen, das sich veränderte, und in eine Landschaft, die sich nicht veränderte.
Einkehr – könnte das auch bedeuten, daß man sich immer weiter in etwas hineinbewegt, daß man, selbst wenn die Wege nach Süden oder Westen führen, das Gefühl hat, immer tiefer in die Seele eines Landes einzudringen, und daß sich dort etwas befindet, das man in keinem anderen Land, so viele man auch schon bereist hat, je antreffen konnte? Vierzig Jahre geht das nun schon so, es ist, neben dem Schreiben, die konstanteste Linie in meinem Leben. Und ein Jahr ohne die Leere dieses Landes, ohne die Farben der Erde und Felsen, ist ein verlorenes Jahr.
Vor zehn Jahren wollte ich nach Santiago fahren, und natürlich bin ich dort angelangt, nicht nur einmal, sondern mehrere Male, und gleichzeitig war ich nicht dort gewesen, weil ich nicht darüber geschrieben hatte. Immer hatte es etwas anderes gegeben, worüber geschrieben oder nachgedacht werden mußte, ein Schriftsteller oder ein Maler, eine Landschaft, ein Weg, ein Kloster,und doch schien es, als wiesen all diese Landschaften, all diese Geschichten von Mauren und Königen und Pilgern, oder alle eigenen Erinnerungen sowie die geschriebenen Erinnerungen anderer in eine Richtung, auf den Landstrich, wo Spanien und der ozeanische Westen einander berühren und die Stadt liegt, die bei all ihrer galicischen Abgeschiedenheit die eigentliche Hauptstadt Spaniens ist.
Noch ein Mal will ich diese Reise nun machen, und auch jetzt weiß ich, daß ich die direkte Linie nicht einhalten werde, daß Weg für mich nie etwas anderes bedeuten kann als Umweg, das ewige, selbstgeschaffene Labyrinth des Reisenden, der sich immer wieder von einem Seitenweg und von einem Seitenweg dieses Seitenwegs verleiten läßt, von dem Geheimnis des unbekannten Namens auf einem Wegweiser, von der Silhouette des Kastells in der Ferne, zu dem kaum ein Weg führt, von dem, was vielleicht hinter dem nächsten Hügel oder Bergrücken zu sehen sein wird.
Vielleicht ähnelt dies noch am ehesten einer Liebesgeschichte, samt all dem Unerfindlichen und Unerklärlichen, das dazu gehört. Und diese Geliebte verläßt einen nicht, das ist der Unterschied. Was tue ich, wenn ich hier bin? Ich suche dieselben Empfindungen wie vor dreißig und zehn Jahren und weiß, daß ich sie finden werde. Was sich verändert hat, sieht man zumeist an den Städten: Sie sind voller,
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