Der Umweg nach Santiago
von Norden kommenden Pilger konnten von hier aus entweder nach Jaca oder Pamplona, Aragonien beziehungsweise Navarra weiterziehen. Entschied man sich für Navarra, so kam man durch die mythischen Gefilde, in deneneinst Roland von den Basken besiegt worden war, durch den Wald der blühenden Lanzen, wo 53 066 bewaffnete Mädchen für die gefallenen Soldaten Karls des Großen in die Bresche sprangen. Aber ich komme nicht aus dem Norden, die Berge, durch die die Pilger von einst unter Lebensgefahr zogen, liegen weiß und leuchtend zu meiner Rechten, ich steuere auf die niedrige, breite Form der Kathedrale von Jaca zu wie ein Seemann auf seinen Hafen, dies ist meine x-te Heimkehr. Das gibt es, Liebe zu Gebäuden, mag es auch noch so schwer sein, darüber zu sprechen, weil ich dann erklären müßte, weshalb dieses Bauwerk für den Fall, daß ich nie mehr reisen dürfte, dasjenige wäre, das ich als letztes noch einmal sehen wollte. Es war die erste romanische Kathedrale, die in Spanien erbaut wurde (1063), aber es ist nicht nur das Alter. Das ist da, aber man empfindet es nicht. Das Gebäude lebt, man zieht es an wie ein Kleidungsstück, wenn ich hineingehe, lege ich es um, als wäre es nicht aus Stein, sondern aus einem anderen, unbenennbaren Material, das sich aus Stein, Licht, Proportion, Glanz, Intimität zusammensetzt. Und auch wenn ich jahrelang nicht dort gewesen bin, ist es sofort da, das Glücksgefühl. Der Boden ist aus Holz, der Stein, aus dem Säulen und Kapitelle gemeißelt sind, stammt aus der Nähe (Castiello) und ist grau, schieferfarben. Das ist nicht meine Farbe, doch hier ist etwas damit geschehen, die Säulen scheinen zurückzuweichen, tun das aber auf eine Weise, als könnten sie diese Bewegung rückgängig machen, als könnten sie sich wieder vorbewegen, und dadurch hat man den Eindruck, als atmeten, lebten sie. Draußen gleicht die Farbe eher der von rotem Sand, die Kirche hat die Stadt wie eine natürliche Umgebung um sich drapiert. Geschäfte, ein kleiner Platz, eine Frau, die Obst und Gemüse verkauft, die dreimal wiederholte Wölbung der Apsis, die Dromedare, Löwen, Basilisken der Kranzgesimse, ferne Fabeltiere. Im Südportal wird Abraham mit dem Messer den nackten Isaak opfern und spielt David mit seinen Musikanten, der König hält sein Saiteninstrument senkrecht auf dem Knie, seine langen, schmalen Füße ruhen auf dem Wulst am Fuß der Säule, die Männer umihn spielen auf Hörnern und Harfen und Instrumenten, deren Namen ich nicht weiß. An dem Holztor ist ein Sterbefall angeschlagen, alle paar Minuten kommt jemand vorbei, der stehenbleibt und es liest.
Der Haupteingang befindet sich auf der Westseite, ein Vorhof, ein Atrium, um dort zu stehen und zu schwätzen oder Schutz vor dem Schnee zu suchen. Über den Türen ein halbrundes Tympanon mit zwei Löwen wie aus einer mozarabischen Handschrift, unter dem einen liegen ein Mann und eine Schlange, unter dem anderen, der mit seiner rechten Pranke einen Bären in Schach hält, steht ein Basilisk. Sie flankieren ein Rad mit dem Christogramm, dem Christuszeichen, sind aber auch selbst Christus in seiner apokalyptischen Löwengestalt. Tiergeschichten! Götter als Tiere, Söhne von Göttern, Bezwinger von Monstren, wenn ich nicht aufpasse, verwandle ich mich unter diesem Steinrelieflangsam in einen Babylonier, jemanden, der die zweifache katzenähnliche Gestalt als göttliches Wesen erkennt, dann aber natürlich das warnende Latein nicht lesen kann, das unter den Löwenpranken steht:
Vivere si qveris qui mortis lege teneris
Hvc svplicando veni renvens fomenta veneni.
Cor viciis mvnda, pereas ne morte secvnda.
»Wenn du leben willst, der du den Gesetzen des Todes unterworfen bist, komme hierher und flehe, verweigere die vergiftete Nahrung der Welt, läutere dein Herz von Ungerechtigkeit, damit du nicht noch einen zweiten Tod zu sterben brauchst.«
Drinnen befindet sich der Durchgang zum Diözesanmuseum, der von einem blassen Priester bewacht wird. Er hat sich fröstelnd in einen von seiner uralten Mutter gestrickten schwarzen Schal gewickelt und zeigt das weiße, leidende Gesicht des künftigen Heiligen. Woher ich komme, will er wissen. Ah! Aus den Niederlanden! Achtzigjähriger Krieg! Und dann will er mir tatsächlich noch einmal erklären, daß die Niederländer die Spanier immer falschverstanden hätten und daß wir deshalb noch immer böse auf sie seien, und ich sage ihm, daß ich schon lange nicht mehr böse bin, schon ein paar
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