Der Umweg nach Santiago
moderner geworden, das Land leerer. Natürlich sieht man auch dort Zeichen der neuen Zeit, doch außerhalb der Dörfer liegen die Ebenen, die Tafelberge, die Täler unverändert. Jetzt bin ich noch in Katalonien, heute abend in Aragonien, und je weiter ich mich von der Küste entferne, um so weiter, offener wird sich die Landschaft ausdehnen, sie wird trockener, immer weniger auf sich ertragen, bis der Reisende ein einsamer Schwimmer in einem Meer von Erde wird, das sich bis an den Horizont erstreckt, und diese Erde wird die Farben von Gebeinen, Sand, zerbröckelten Muscheln, rostigem Eisen, vermodertem Holz haben, doch sogar über den dunkelsten Farben wird ein Licht liegen, das in der Ferne zu einem Schleier wird, alsmüsse das Auge vor so viel Weite und Licht geschützt werden. Und in der Ferne liegen Kirchen und Klöster, die der sichtbaren Unendlichkeit entsprechen, die etwas über ein undenkbares Früher erzählen wollen, das die heißen und kalten Lüfte eines extremen Klimas für denjenigen bewahrt hat, der es sucht. Irgendwann, als mir diese Dinge noch nicht bewußt waren, müssen diese Landschaften in mich eingedrungen sein, Antwort auf eine Sehnsucht nach Unendlichkeit, die außerhalb des Meeres oder der echten Wüste nirgends mehr zu finden ist. Ich weiß, daß diese Ausdrucksweise nicht mehr in diese Zeit gehört, aber das kümmert mich nicht, in diesem Punkt will ich gern falsch verstanden werden. Denn zu wem sollte man sonst von Erfüllung oder Erleuchtung sprechen? Pedro Laín Entralgo versucht in seinem Buch A qué llamamos España (Was nennen wir Spanien), Antwort auf die Frage zu geben, welche Auswirkung die Farbe der kastilischen Landschaft auf denjenigen hat, der sie andächtig betrachtet, und Ortega y Gasset ( Notas de andar y ver , Notizen beim Reisen und Sehen) spricht von der Geometrie der Ebene, einer »sentimentalen Geometrie für die Menschen Kastiliens und Léons«, in der die Pappel das vertikale Element ist und der Windhund des Jägers das horizontale, und sofort sieht man, ausgespart in der Leere, horizontale und vertikale Demarkationen, die dem Auge Halt bieten sollen, weil es sich sonst in dieser Unendlichkeit verlieren würde.
Ich komme nicht aus Kastilien und nicht aus León. Man sucht sich sein Geburtsland nicht aus, und ich weiß nicht, welcher Mensch ich geworden wäre, wenn ich hier geboren wäre. Auch das Land, aus dem ich komme, kennt an den Stellen, wo noch nicht diese Fülle herrscht, den geometrischen Absolutismus, die Fläche des Polders und darüber das Rechteck des Himmels, Mondriaan konnte nirgendwo sonst geboren sein. Keine Verlockungen, keine Ablenkung, extreme Sichtbarkeit. Dies sind die Berührungsflächen des Calvinismus mit einigen Formen des spanischen Katholizismus. Doch die Niederlande haben ihren Raum verloren und damit, merkwürdigerweise, ihre Zeit; wennich jetzt dorthin komme, spüre ich eine Flüchtigkeit, eine neurotische Unbeständigkeit, als bemühte sich jeder und alles, sich möglichst schnell von der eigenen Geschichte zu befreien und so etwas anderes zu sein oder zu werden. Spanische Freunde empfinden das gleiche in bezug auf ihr eigenes Land seit Francos Tod, sie sprechen von transición und movida , und ich wäre ein armseliger Reisender, wenn ich den Unterschied zu früher nicht sähe, manchmal ist er so kraß, daß ich fast vergessen könnte, hier auch schon in den Tagen des Franco-Regimes gelebt zu haben und gereist zu sein, der Zeit der Zensur und der Bigotterie, der Falange-Uniformen, der Todesurteile und Exekutionen, der Messen der Blauen Division, der verbannten Schriftsteller, der verbitterten Abkapselung jener, die auf der Verliererseite gekämpft hatten. Das alles ist weg, verschwunden, außer vielleicht aus den Köpfen jener, die darunter gelitten haben – manchmal hat es den Anschein, als habe dieses riesige Land alles aufgesaugt, in seiner Trockenheit verdunsten und verschwinden lassen, samt den Erinnerungen und dem Blut, ein paar Narben mehr in der gegerbten Stierhaut, Kratzer in einer Geschichte, die einfach nicht enden wollte, der Sage von Römern und Mauren und Juden und Goten, von fremden Invasionen und der langsamen Rückeroberung, von Entdeckung und Kolonisierung, Unterwerfung und Bürgerkrieg. Er wird wohl nicht haltbar sein, denke ich, der Bezug, den ich zwischen Raum und Zeit herstellen will, und dennoch scheint es, als habe sich in diesem immer noch leersten Land Europas auch eine andere Form von Zeit bewahrt, als habe
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