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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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ein Reich von achthunderttausend Menschen. Die Klosterkirche ist die Fortsetzung ihrer Grabmale, die Paladine schlafen neben ihnen im Boden, Namen und Titel in den Quaderstein gemeißelt, und daneben die orientalischen Marmorlöwen, die den Königssarg tragen. Wenn sie die Steindeckel ihrer Schlafstätte beiseite schieben, erkennen sie alles wieder, mit Ausnahme von mir.
    Draußen Orangenbäume, ein bemooster Springbrunnen in einem steinernen Brunnenhäuschen, Wassergeflüster, die leeren Weinkeller mit den großen Fässern, die verlassene Bibliothek, die Gräber der Äbte im Boden des Kapitelsaals, Namen und Jahre. 1830 war es vorbei, da wurden die Klöster von der liberalen Regierung enteignet, die Mönche zogen davon, der Verfall, der jetzt, äußerst langsam, wieder ungeschehen gemacht wird, konnte einsetzen. Von hier oben blicke ich auf die Landschaft, die Straße, die nach Norden schwenkt, nach Huesca, und die verschneiten Pyrenäengipfel dahinter.
    Aber noch einmal. Kirchen, Landschaften, Nostalgie, Ruinensucht. Ich wurde einmal gefragt, weshalb ich die Landschaft der Meseta so schön fände. Weil mir so schnell keine Antwort einfiel, sagte ich, »weil ich glaube, daß es in mir ebenso aussieht«, und das ist genau die Art von subjektivem Ästhetizismus, dessentwegen Goytisolo Unamuno angreift, aber auch Goytisolo wird hin und her gerissen, da er selbst sieht, daß Industrialisierung und Tourismus die Seele dieser Landschaft anfressen. Er findet keinen Ausweg aus diesem Dilemma. Einerseits sagt er, daß Unamuno und in geringerem Maße Azorin an die verlassene Landschaft die Kriterien der ästhetisch-religiösen Militärkaste Kastiliens anlegten (nicht umsonst träumt Ortega in seinen Tierras de Castilla davon, daß der Cid einst zu Pferd durch dieselben Landschaften gezogen ist, durch die er selbst jetzt mit seinem Esel dahinzuckelt), andererseits aber ist ihm deutlich, daß die Einöde des Landes, sobald man jener anderen, geistigen Einöde der verdorbenen Küste entflohen ist, ihre eigene Majestät besitzt. Einst gab es Wälder in Spanien, genügend Bilder und Geschichten beweisen dies. Doch das Land wurde kahlgeschlagen, kahlgerodet, eine zweite, negative Schöpfung: ohne Bäume kein Regen, ohne Regen keine Bäume. Ich müßte darüber trauern, aber kann es nicht. Im übervollen Europa ist dies der letzte Zufluchtsort. Und tot ist dieses Land nicht. Ich sehe Herden in der Farbe des Bodens, den Raubvogel, der seine langsamen Buchstaben schreibt, bis er sich herabfallen läßt und mit einer Schlange in den Fängen abschwenkt, nurdie Menschen sind verschwunden und haben ihre Häuser zurückgelassen. Rätselhaft ist das, als hätte hier ein Krieg gewütet. Zuerst glaubt man es nicht, es kann doch nicht sein, daß alle fort sind? Doch wenn man näher kommt, weiß man es, man tritt vorsichtiger auf, denkt, daß in einem dieser Häuser vielleicht noch ein Toter liegt. Dies ist im Norden, an der Straße von Boltaño nach Broto, 1957 bin ich hier gefahren, vielleicht lebte dieses Dorf damals noch. Ich gehe über einen matschigen Weg bis zu den ersten Häusern, der Wind zerrt an den lose hängenden Läden, wie Jaulen hört es sich an. Prohibido el paso , steht da, pueblo en ruina , und das stimmt, das ganze Dorf ist eine einzige Ruine, Balkons aus verrostetem Eisen, Fenster ohne Scheiben, Fassungen ohne Lampen, alles abmontiert, leergeräumt, dürres Brombeergestrüpp wuchert über Fensterbänke, von denen die Farbe abgeblättert ist, Steineichen wachsen schief in Häuser hinein, ich klettere über rutschende Steine. Traurig ist das, diese der Menschen ledige Welt, die unsinnigen, vom Zahn der Zeit zerstörten Gegenstände, Dinge, die sie nicht mehr mitnehmen wollten oder konnten. Gingen alle zusammen fort? Waren Kinder darunter oder nur noch alte Leute? Keine Stimmen, keine Schritte, lediglich das unhörbare Geräusch von etwas, das unendlich langsam in sich zerfällt, verrutscht, zerbröselt, wenn ich in hundert Jahren wieder herkomme, hat es nie existiert.
    Meine Pfeile können nicht geradeaus fliegen, immer ist da etwas – die Verlockung einer Karte, eines Satzes, den ich gelesen habe, eines Fotos, eines Bildes, des Klangs eines Namens –, das mich vom Kurs abbringt, der später doch wie eine lange Reise aussehen wird, der Umweg als Weg. Diesmal war es alles zugleich, ein Buch ( Elegía ), das ich über Antonio Saura gelesen hatte, mit den Abbildungen der Deckenmalereien, die er in der Diputación (dem Haus des

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