Der Umweg nach Santiago
Geschichten und Berichten von Angehörigen, all dies ist Teil der Abstraktion, die wir Geschichte nennen.
Beim Erscheinen des Buchs Der Kummer von Flandern wurde Hugo Claus gefragt: »Aber in dem Buch wird Geschichtsschreibung und ihre Funktion doch explizit in Worte gefaßt«, und er antwortet darauf: »Natürlich habe ich versucht, am Beispiel des kleinen Mannes, der keinen Überblick hat, keinen Überblick haben kann , wie die Geschichte auch in sein Leben eingreift, zu zeigen, wie so etwas vor sich geht. Ich glaube nicht, daß man pedantisch historische Fakten aufzählen und ihre Auswirkung auf Menschen getrennt davon aufzeigen kann. Die Geschichte muß mit dem Magma verschmolzen werden, was die Menschen sagen, tun, fühlen, denken, wie sie reagieren. Das ist zumindest mein Anliegen gewesen, und wenn man so vorgeht, stößt man natürlich auf die Frage: Wie entstand eine Form von Faschismus, von Nationalismus bei Menschen, die meinen, damit nichts zu tun zu haben. Oder die das gar nicht ergründen wollen, obwohl es doch in ihre Gedankenmuster, ihre Reaktionen auf Deutsche, auf Engländer eingreift.«
»Menschen, die meinen, damit nichts zu tun zu haben.« Das ist das Geheimnisvolle, auch wer glaubt, damit nichts zu tun zu haben, ist Partei, nimmt teil. Geschichte ist eigentlich ein ebenso seltsames Element wie Raum oder Zeit. Wir befinden uns immer darin. Ich weiß nicht einmal, ob es ein Teil der Zeit ist, auch wenn Geschichte ohne Menschen nicht denkbar ist und Zeit schon. Heute, so viele Jahre nach dem Spanischen Bürgerkrieg, ist es möglich, große Linien aufzuzeigen – die Interessen der einzelnen europäischen Länder, die aktive Rolle Hitlers, Mussolinis, Stalins, die per fide Haltung Englands, das große finanzielle Interessen in Spanien hatte, das individuelle Heldentum vieler Angehörigerder Internationalen Brigaden, den Brudermord zwischen Anarchisten und Kommunisten. Gibt es das, Fortschritt? Gibt es so etwas wie einen unabwendbaren Lauf der Dinge? Hätte es auch anders verlaufen können? Vor allem mit letzterem habe ich meine Probleme: Wenn es einmal so und so gelaufen ist, hätte es dann je anders laufen können? In Gedanken ja, in der Praxis nie mehr. Vielleicht ist das das Kalte an der Geschichte, daß es sich bei ihr um vollendete Tatsachen handelt, daß es scheint , als könnten individuelle Willensentscheidungen – hinterher betrachtet – nichts ausrichten oder als hätten sie nichts ausrichten können. Hatte einer, der damals für die Republik starb, recht? Ich denke schon, aber es ist ein schreckliches Opfer. Wie ist es, wenn man verliert , wenn man in einen Gewehrlauf blickt und die letzten Worte dazu benutzt, »Es lebe die Republik« zu rufen, und sich den Rock über den Kopf zieht, damit der Henker das Geschlecht sieht, und dann stirbt? Darf ich, später, eine Verbindung zwischen diesem Moment und dem Foto in El País herstellen, das einen jungen Sozialisten zeigt, der in einer Monarchie an der Spitze der Regierung steht und in dieser Eigenschaft zusammen mit den Stabschefs abgebildet wird? Ich denke, daß ich das darf, daß es jedoch nur eine der Tausende, Millionen von Linien ist, die von diesem Foto oder von diesem Schicksalsmoment zu anderen Momenten gezogen werden könnten. Das Paradoxe daran ist vielleicht, daß die Geschichte keinerlei Ziel kennt, daß wir aber, weil es uns gibt, stets ein Ziel haben und damit Geschichte machen. Mein Freund, der Philosoph, sagt mir jetzt, daß Hegel zufolge die Geschichte sehr wohl ein Ziel hat und daß ich die Geschichte nie mit der Zeit auf die gleiche Ebene stellen darf, und in letzterem wird er zweifellos recht haben. Die Geschichte ist eine sichtbare Form der Zeit, murmele ich noch, aber das bedeutet natürlich nichts, denn das ist eine Uhr auch. Die Stunden der Uhr sind die Jahreszahlen des Jahrhunderts, doch was hilft das? Schön, noch ein Versuch: Die Geschichte ist die Summe all unserer einander widerstreitenden, gegensätzlichen Ziele. Doch damit hat sie selbst noch keine.
Gegensätzliche Ziele. Vor fast fünfhundert Jahren brach in Segovia der Aufstand der Comuneros unter Führung von Juan Bravo aus. Weil aber die Geschichte stets auf sich selbst zurückverweist, müssen wir, um diesen Aufstand richtig zu begreifen, noch weiter in der Zeit zurückgehen, bis tief ins Mittelalter. Bis dahin war das Volk praktisch rechtlos, erhielt jedoch als Folge der Reconquista, vor allem, um Menschen dazu zu bringen, sich in den »neuen« Gebieten
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