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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Auch sonst zaubert hier die Welt: Die Rebhühner, die am Tag vor uns auffliegen, stehen abends plötzlich in Tonschalen auf dem Tisch, und der Zagarrón, der hier nebenan abgefüllt wird, ist ein Wein, der es mit einem ganzen Bataillon Wild aufnehmen kann.
    Es regnet. Beim riesigen Kastell Belmonte, das in der welligen Hügellandschaft wie eine gestrandete Arche daliegt, ist es trocken, aber es regnet wieder, als wir nach Argamasilla kommen, um Cervantes’ Gefängnis zu suchen. Ein Hirte mit einer Schafherde zeigt uns den Weg, der durch die schmalen Gassen des Dorfs zu einem großen grünen Tor führt. Ich klopfe, und nach einer Weile höre ich eine schrille alte Stimme, die si ! ruft, aber weiter passiert nichts. Noch einmal lasse ich den großen eisernen Türklopfer fallen, und dann erscheint eine sehr alte, ganz krumme Frau. Sie hat weißes Haar und ein wundervolles Gesicht. Die Höhle ist woanders, sagt sie, und wir folgen ihr durch den Regen, plötzlich zwei Riesen mit einem Zwerg, ersonnen vom Dichter. Mit einem Schlüssel, der viel größer als ihre Hände ist, schließt sie eine Tür auf und zeigt auf eine Treppe, die abwärts führt. Hier saß der Dichter gefangen, weil er eine Schuld nicht begleichen konnte, und hier soll er die ersten Kapitel geschrieben haben. Ich glaubealles, denn dort steht ein kleiner Holztisch mit einem Tintenfaß und zwei Gänsefedern. Bring nie einen Schriftsteller in das Zimmer eines anderen Schriftstellers, denn dann wird er entweder ganz unglücklich oder will sich sofort an diesen Tisch setzen. Ich tue letzteres und sehe, was Cervantes sah, als er die ersten Worte schrieb. Aber dann muß ich mir auch das elektrische Licht wegdenken und die Gedenktafeln an der Wand, die Kamera des Fotografen. Dann bleibt nur noch das Steingewölbe, das Geräusch des Regens, das von oben kommt, ein Schritt auf der Straße, der Wind, das Kratzen einer Feder. Und sonst Stille, die Stille, in der die ersten Worte des Prologs geschrieben wurden: »Müßiger Leser! Ohne Eidschwur kannst du mir glauben, daß ich wünschte, dieses Buch, als der Sohn meines Geistes, wäre das schönste, stattlichste und geistreichste, das sich erdenken ließe. Allein ich konnte nicht wider das Gesetz der Natur aufkommen, in der ein jedes Ding seinesgleichen erzeugt. Und was konnte demnach mein unfruchtbarer und unausgebildeter Geist anderes erzeugen als die Geschichte eines trockenen, verrunzelten, grillenhaften Sohnes, voll von mannigfaltigen Gedanken, wie sie nie einem andern in den Sinn gekommen sind ...« Und diese mannigfaltigen Gedanken haben die Menschheit seither beschäftigt, sie verirrten sich in Sprichwörter und Abbildungen, wurden in alle Sprachen übersetzt, wenn alles in diesem Keller untergebracht werden sollte, so müßte er tausendmal größer sein. Und dennoch ist dieser Keller noch ebenso leer wie damals, als Cervantes zum erstenmal in ihn hinabstieg. Rätsel. Worte und Bilder aus der leeren Luft.
    Oben an der Treppe wartet die alte Frau auf uns. Sie deutet auf eine Büste des Dichters unter einem Aprikosenbaum, aber auch die löst die Rätsel nicht. An den darauffolgenden Tagen reisen wir unter wechselndem Himmel durch die Mancha, wir besuchen den Gasthof in Puerto Lapice, wo der Wirt Don Quijote zum Ritter schlug, schlafen in dem hohen Kastell von Alarcón mit einer Schießscharte als Fenster, von wo aus man die ganze Gegend überblicken kann, fahren entlang den Lagunas de Ruidera zur wilden Sierra de Alcaráz , sehen Kirchen, Kastelle, die hängenden Häuser und das prachtvolle Museum für abstrakte Kunst in Cuenca, die römischen Ruinen im verlassenen Land von Segóbriga. Die Sonne kehrt wieder und schüttet ihr Licht über die Kornfelder. Ich schreibe die Namen von Gerichten, Käsesorten, Weinsorten, Gasthäusern, Dörfern auf, lerne von einer alten Frau, daß alle ihre verschiedenen Stickereien die Namen von Insekten und Reptilien tragen, doch bei alledem lassen der Ritter von der Traurigen Gestalt und sein Dichter mich noch nicht los.
    In diesem Buch von John Hay aus dem Jahr 1871 stand eine Passage, in der der Autor das Tauf becken, in dem Cervantes getauft wurde, in der Kirche Santa María la Mayor in Alcalá de Henares besuchen wollte. Es ist Sonntag, als wir dort ankommen. Es riecht hier schon ein wenig nach Großstadt, Madrid ist nahe, der Kreis hat sich fast geschlossen. Wir sehen die prachtvolle Fassade der alten Universität mit ihrem plateresken Haupteingang und den manuelischen

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