Der Umweg nach Santiago
würde, hätte sie wieder die Macht, wäre ihre Gefangenschaft vorbei. Wenn sie aber nein sagte, tat sie es gegen ihren fernen, abwesenden »flämischen« Sohn.
Gut, dies jetzt als Oper, die Arie des großen Zweifels. Auf der einen Seite, von den Comuneros angeboten, Krone und Freiheit, auf der anderen Seite, außerhalb der Mauern, die Partei ihres Sohnes, der sie gefangenhielt. Dann begehen, in Fabers Lesart, die Anführer der Comuneros einen entscheidenden Fehler. Sie lassen die zweifelnde Frau, die von ihrem Beichtvater (Bariton, ich höre das Duett) in ihrem Mißtrauen bestärkt wird, von einem anderen Priester exorzieren, der Teufel, der in ihr ist, soll ausgetrieben werden. Aber darüber ist bereits zu viel Zeit vergangen, die Königstreuen erobern die Stadt zurück, und durch einen raffinierten Schachzug Karls zieht der Adel, militärisch die stärkste Partei, sich aus der Junta zurück; in der Schlacht von Villalar wird der Volksaufstand niedergeschlagen. Der Bischof von Zamora wird mit der Garrotte erwürgt, Juan Bravo mit 73 anderen Comuneros in Segovia enthauptet, das Parlament verliert alle Macht.
Aufständische verwandeln sich in Straßennamen, Blut in Adressen. Ich bummle an den Geschäften in der Calle Juan Bravo vorbei, biege in die Straße Isabel la Católica ein, wundere mich über die Hartnäckigkeit von Namen und komme zur Kathedrale. Das Traumbild aus der Ferne, das ich von meinem Balkon mal als schwarzen, grimmigen Schatten gesehen habe und mal als leuchtendes, brennendes Emblem, diese Form, die zu jeder Tageszeit anders aussieht, wirkt aus so großer Nähe fast bösartig vor Abwehr. Hier haust kein freundlicher Gott, im Gegenteil: Der Wüstengott, der einst mit seiner Bundeslade über die verdorrte Ebene ziehen mußte, hat Karriere gemacht. Zwar muß er jetzt Götzenbilder neben sich dulden, aber er ist noch immer derselbe, der Gott Isaaks und Abrahams, und er ist noch immer streng und rachsüchtig, auch wenn sein Element jetzt nicht mehr die Hitze ist, sondern die Kälte. Verschwunden ist die Sanftmut romanischer Kirchen, dies ist eine Festung, sie drückt Macht aus und Menschen nieder. Ich wandere ziellos in diesem steingewordenen Triumphgefühl umher. An einem der Altäre wird eine Messe gelesen, aber die menschliche Stimme wird hier erdrückt, darf nicht sie selbst sein, entartet zu einem fernen, demütigen Flüstern, das sich in diese hohen, kalten Gewölbe fortschleicht, die ferner scheinen als der Himmel selbst. In diesem riesigen Bahnhofsgebäude voll weißer Heiligkeit sind die hohen Wände des Chors abwehrend, isoliert in der steinernen Fläche. Die Seitenkapellen sind im Halbdunkel verborgen. Gestreckte, gemarterteHeilige leiden, kaum sichtbar, hinter ihren Gittern, nur die hohen, fernen Fenster lassen etwas Sonnenlicht ein. Vier Menschen übereinandergestellt reichten noch nicht bis an die Oberkante der Türen, und durch eine dieser Türen trete ich hinaus, empfinde die Außenluft als Befreiung und stehe auf einem kahlen, nach nirgendwo ausgerichteten Platz aus großen Steinen, zwischen denen hartes, ungöttliches Unkraut wächst. Der Wind von der Ebene weht darüber, in der Ferne sehe ich die Schneegipfel der Sierra de Guadarrama.
In Segovia
Eine geballte Stadt, Segovia. Hat man sie durch einen der vielen Aquäduktbögen betreten, so scheint es, als schlössen sich die schmalen Straßen hinter einem. Man steigt Gassen hinauf, geht an Restaurants vorbei, wo die schamlosen Gesichter nackter Spanferkel auf keuschen Vorderpfoten ruhen, und an altmodischen Läden, die Garn und Band und ultramarinos verkaufen, und steht dann plötzlich vor der Überraschung prächtiger romanischer Kirchen (zwanzig an der Zahl!), sieht, wie sich unten im Tal der Río Eresma zwischen dem Grün entlangschlängelt, und kommt, ohne daß einen jemand zwingt, ganz von selbst zum Alcázar. Wüßte man nicht, daß er echt ist und wirklich alt, so könnte man glauben, er sei von Walt Disney entworfen worden. Eine Kinderschar lehnt sich über die Zinnen des Hauptturms und schreit »Viva Asturias!«. Der Schrei bleibt für einen Moment in der Luft hängen und verhallt dann über der tiefen Schlucht. Uneinnehmbar, so wirkt er, dort oben auf den Felsen. Spitze Türme, geschlossene Mauern, der Donjon mit seinen seltsamen runden Aussichtstürmen wie ein Kandelaber für Riesenkerzen, die nachts die gesamte Meseta Kastiliens erhellen können. Die spanischen Könige, die wie vertriebene Zigeuner von Kastell zu Kastell
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