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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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soll das aufgezählt werden? Der Sklave, der an dem Aquädukt baut, der Centurio, der Heimweh nach Rom hat, der Zerfall des Römischen Reichs und die Folgen, die dies für die namenlosen Verschwundenen hatte, die hier lebten? All diese individuellen Schicksale, verdichtet zu einer Zeile im Buch der Ereignisse, aneinandergefügt im unsichtbaren Labyrinth der Zeit, scheinbar solide, wie dieses Foto von González mit seinen Streitern, aber dazu verdammt, in der Springflut aufgezählter Fakten und Ereignisse unterzugehen, die jedes einzelne Ereignis inhaltlich immer wieder neu bestimmen wird.
    1936. Ein anderer regiert, Franco, der an die Macht gekommen ist, indem er die Republik umwarf. (So wie man einen Stuhl umwirft.) Eine Stimme ertönt in der Kathedrale von Segovia, eben jener, die ich von meinem Balkon aus sich als Form gegen den Himmel abzeichnen sehe. »Das Vaterland muß erneuert werden, alles Unkraut ausgerissen, die schlechte Saat ausgemerzt. Dies ist nicht die Zeit für Skrupel.« Es ist der Anfang des Terrors gegen alles, was links ist. In der Stadt gibt es zwei Strömungen: eine legalistische, die dafür eintritt, daß Menschen verhaftet und vor Gericht gestellt werden müssen, und eine andere, die meint, standrechtliche Exekutionen müßten ein gewisses Maß von Terror verbreiten. Die falange von Valladolid übernahm die Verwaltung der Provinz Segovia. Unzählige wurden verhaftet und in den Straßenbahndepots von Valladolid gefangengehalten. Ein Zeugenbericht: »Eines Morgens mußten wir einen Kordon bilden; die Zuschauer drängten so, daß die Erschießungskommandos keinen Platz mehr hatten, um die öffentliche Exekution durchzuführen. Wir mußten die Leute in mindestens 200 Meter Distanz halten und hatten strikten Befehl, darauf zu achten, daß sich keine Kinder unter den Zuschauern befanden. Die Gefangenen wurden aus den Depots geholt. Unter den zwölfen an diesem ersten Tag, als ich Dienst hatte, waren ein paar aus einem Dorf inder Nähe von meinem. Man kann sich vorstellen, was ich dabei empfand! Alle, darunter auch eine Frau, lehnten es ab, sich die Augen verbinden zu lassen. Wie einige der anderen reckte auch sie die geballte Faust in die Höhe und rief ›Es lebe die Republik‹, als die Schüsse fielen. Den Rest der Woche, die ich Dienst hatte, wurden jeden Morgen zwölf Menschen erschossen. Es waren noch drei Frauen darunter. Zwei davon hoben, als das Kommando die Gewehre in Anschlag brachte, die Röcke über den Kopf und ließen alles sehen. War das als Provokation gedacht, war es Verzweiflung? Ich weiß es nicht, aber die Leute kamen, um solche Szenen zu sehen. Und als wir in die Stadt zurückgingen, waren die Straßen völlig verlassen, alle Zuschauer waren in ihren Häusern, ihren Betten verschwunden. Die Stadt war still ...«
    Labyrinth der Zeit, nichts weiter als Bildsprache, Deutung. Aber so wie man in einem echten Labyrinth (es gibt sie) spürt, daß man, während man nach dem Ausgang sucht, trotzdem zurück geht, so scheint auch die Geschichte zuweilen einen bestimmten Verlauf zu nehmen, der dann als Fortschritt oder »unabwendbarer« Verlauf bezeichnet wird. Wenn dieser »Fortschritt« aufgehalten wird, spricht man von »einem Schritt zurück«. Und zurückgehen oder zurückgehen müssen, um wieder vorwärts zu kommen, ist eine labyrinthische Bewegung: Eine ganze Reihe aufeinanderfolgender Ereignisse würde, graphisch dargestellt, ein labyrinthisches Motiv abgeben. Doch dem Zeitgenossen stellt sich nichts graphisch dar. Entweder glaubt er, selbst aktives Instrument des Schicksals zu sein, oder er erlebt die Aufeinander folge von Ereignissen als Chaos, als Eingriff in sein persönliches Leben. Manchmal bedeuten diese Ereignisse auch, wie oben geschildert, seinen Tod, ihren Tod. Dann hört die Geschichte für diesen einen Menschen auf, doch für die anderen wird dieser Mensch im selben Moment ein Teil der Geschichte. Es gibt natürlich zwei Möglichkeiten, an der Geschichte teilzuhaben, eine aktive und eine passive. Ein Bombenopfer landet als Bestandteil einer großen Zahl in einem Buch, jemand, der »Es lebe die Republik« im Angesicht eines Erschießungskommandos ruft, hat in gewisserWeise sein Schicksal bestimmt, indem er sich für etwas entschieden hat. Aber das gilt natürlich auch für denjenigen, der schießt, und in gewisser Weise ebenfalls für den, der sich das anschaut. All dieses Leiden und Leidenlassen, Beobachten und Bezeugen, all diese Emotionen und ihr Widerhall in

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