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Der Umweg nach Santiago

Der Umweg nach Santiago

Titel: Der Umweg nach Santiago Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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anzusiedeln, fueros , Privilegien, die bis dahin dem Adel und der Geistlichkeit vorbehalten waren. So entstanden in den verschiedenen spanischen Königreichen Cortes , Parlamente, die man nicht mit einem heutigen Parlament vergleichen darf, die aber trotzdem Ausdruck eines sehr frühen demokratischen Bewußtseins beim spanischen Volk waren, früher eigentlich als im übrigen Europa. León hatte seine Cortes bereits 1188, Aragonien 1163, Katalonien 1228, Kastilien 1250. Daß die einzelnen Könige im Laufe der Zeit dieses wachsende Selbstbewußtsein der Parlamente (bestehend aus dem Adel, nobiliarios , der Geistlichkeit, eclesiásticos , und den Vertretern der Städte, populäres ) als Beschneidung ihrer eigenen Macht betrachteten, ist klar.
    Aus Körperschaften, die ausschließlich einberufen wurden, wenn der Fürst wieder einmal Geld benötigte, hatten sie sich zu mündigen und lästigen Institutionen entwickelt, und als der Habsburger Karl V ., der von den Spaniern ohnehin verachtet wurde, weil er nicht einmal Spanisch, sondern Flämisch sprach und hohe spanische Ämter an Ausländer vergab, dem Volk immer schwerere Lasten auferlegte, um seine internationale Politik zu finanzieren, brach der Aufstand aus. »Volksbewegungen«, schreibt Gustav Faber in seinem Buch Spaniens Mitte , »schwelen von unten her, aber dennoch bedarf es der Organisatoren, die ihnen Kontur geben.« Da ist es wieder, dieses unsichtbare, zu einem großen Teil nicht mehr nachzuvollziehende Element – die Gedanken, die Wut, der Groll –, das wie eine Welle anschwillt und die anonyme Masse in Bewegung bringt. Eine »Heilige Junta« aus Volk, Adel und Geistlichkeit unter Juan Bravo fordert Steuersenkungen, einheimische Statthalter, Reformen. Die Krone an sich ist nicht ihreZielscheibe, es geht um diejenigen, die Karl zu seinen Repräsentanten bestimmt hat. In Toledo werden Volkskomitees gegründet, ein Wort, das eher an das 18. als an das 16. Jahrhundert denken läßt. In Spanien gärt es, und trotz der großen Entfernungen zwischen den Städten greift der Aufstand um sich. Auf Segovia und Toledo folgen Guadalajara, Ávila, Madrid, Alcalá de Henares, und eine gemeinsame Erklärung beinhaltet die Absetzung des Regenten Karls, des Niederländers Adrian van Utrecht und späteren Papsts Hadrian VI . Adrian zieht mit seinem Söldnerheer gen Segovia, aber als er sich der Munitionsdepots von Medina del Campo bemächtigen will, fliegen diese in die Luft, wobei die ganze Stadt zerstört wird. Wut und Erbitterung; andere Städte schließen sich an, in Segovia werden zwei Abgeordnete des Verrats beschuldigt und an den Füßen aufgehängt.
    Nun bricht wieder einer jener Augenblicke an, die für ein Königsdrama oder eine Oper taugen, doch Spanien hat nun einmal keinen Verdi. Die Großeltern Karls V ., Ferdinand und Isabella, die »Katholischen Könige« (Reyes Católicos: wir können das nicht, einem Königspaar den Titel »Könige« geben, die Spanier tun es noch heute – wenn Juan Carlos und Sophia irgendwohin fahren, heißt es in den spanischen Medien, daß die Könige irgendwohin fahren, als wären es zwei Männer), hatten ihre Töchter mit europäischen Fürsten verheiratet. Johanna, die spätere Johanna die Wahnsinnige, bekam Philipp den Schönen, den Sohn des österreichischen Kaisers, und damit »bekam« das Haus Habsburg Spanien, es war in der Mitgift enthalten.
    1506 starb Philipp der Schöne plötzlich in Burgos am »Fieber«, und Johanna, die schon zuvor manisch-depressive Symptome gezeigt hatte, verlor, einfach ausgedrückt, den Verstand. Nicht lange danach wurde die wahnsinnige Königin von ihrem Sohn, dem Kaiser, in Tordesillas eingesperrt.
    Um sie geht es jetzt. Der Kaiser ist in Deutschland, die Rebellen wenden sich hilfesuchend an sie, aber das gleiche tut Karls Partei. Sie versteht nicht, warum diejenigen, die sie eingesperrt haben, gerade sie so dringend brauchen, und weigert sich. Nun bietet dieHeilige Junta mit Bravo an der Spitze ihr die Kronen der spanischen Königreiche an, deren rechtmäßige Erbin sie im übrigen ohnehin war. Der Hof wird an den Ort ihres Klostergefängnisses, nach Tordesillas, verlegt (das man heute noch besichtigen kann und wo ihr halb zusammengebrochenes Spinett mehr als alles andere von der Trübseligkeit ihres elenden Daseins zeugt), auch das Parlament tritt dort zusammen, und man schwört ihr Treue. War sie wirklich verrückt? Wußte sie zeitweise, worum es ging, oder wußte sie es immer? Wenn sie ja sagen

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